Das Asylpaket der GroKo: Sch­nel­lere Dublin-Ver­fahren jen­seits poli­ti­scher Rhe­torik

Gastbeitrag von Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M.

06.07.2018

Die Einigung kam schnell, die Rhetorik ist abgeschwächt. Doch enthält das Asylpaket viel vom Unionskompromiss. Die Transitverfahren umzusetzen, wird nicht am Recht scheitern, meint Daniel Thym. Wichtiger seien die geplanten Dublin-Änderungen.

Nach drei Wochen voller Streit und immer neuer Schlagzeilen muss das Ergebnis beinahe enttäuschen. Das neue Asylpaket, auf das die Große Koalition sich am Donnerstagabend geeinigt hat, erscheint auf den ersten Blick als ein Soufflee, das in sich zusammenfällt.

In der Sache stimmt das freilich nur, wenn man von dem Inhalt erwartet, dass er dieselbe Wucht entfaltet wie das politische Scharmützel, das ihm voranging. Diese Erwartung konnte nur enttäuscht werden. Dennoch steckt in dem Papier viel Inhalt: Der CDU/CSU-Kompromiss überlebt nahezu unverän-dert und außerdem soll das Dublin-Verfahren grundlegend reformiert werden.

Das ist gewiss keine Revolution, aber für die Asylpraxis dennoch mehr als die "Mickymaus", von der Horst Seehofer sprach – und dennoch bleiben rechtliche Fallstricke, die der nationale Gesetzgeber jedoch beheben könnte.

Nur sprachlich abgeschwächt: Der CDU/CSU-Kompromiss überlebt

Ein Grund für die reservierten Schlagzeilen am Freitagmorgen dürfte die rhetorische Abrüstung sein, die das Papier durchzieht. Der Kompromiss zwischen CDU und CSU hatte in Twitter-Manier auf drei kurze Meldungen voller Schlagwörter wie "neues Grenzregime", "Transitzentren" und "Fiktion der Nichteinreise" gesetzt. Deren operativer Gehalt wurde nicht erklärt, aber sie weckten Assoziationen (und sollten das wohl auch) – und wurden ebenso übersteigert von manchem Juristen als Abschaffung des Rechtsstaats und Grundgesetzverstoß gewertet.

Der Koalitionsausschuss geht den umgekehrten Weg. Aus den Transitzentren werden "Transitverfahren" in "bestehenden Einrichtungen" – und aus der Fiktion der Nichteinreise ein sprachlich unauffälliges "reisen rechtlich nicht ein".

Die "Zurückweisungen", von denen auch der Koalitionsausschuss spricht, sollen nicht alle Personen erfassen, für die ein anderer Staat zuständig ist, sondern nur sogenannte Eurodac-I-Treffer, also Personen, die andernorts bereits ein Asylgesuch stellten und deren Fingerabdrücke registriert wurden. Den-noch geht es nicht nur um Einzelfälle, da nach der jüngeren EuGH-Judikatur bereits die bloße Vorsprache bei der Grenzpolizei ein solches Asylgesuch darstellt, soweit sie schriftlich aufgenommen wird. Nach der offiziellen Eurodac-Statistik gab es für deutsche Anfragen gegenüber Italien im Jahr 2017 genau 24.067 solche Treffer. Oft wurde hier kein Dublin-Verfahren eingeleitet, aber dies mag sich künftig ändern.

Zurückweisungen: Es gelten GG, Menschenrechte und Dublin-Regeln

Dass das neue Transitverfahren dennoch wenige Personen betreffen dürfte, hat andere Gründe. So soll es nur an der deutsch-österreichischen Grenze gelten und dort wohl auch nur diejenigen Asylbewerber erfassen, die bei den Grenzübertrittstellen aufgegriffen werden – explizit gesagt wird das freilich nicht.

Tatsächlich kann man in diesen Fällen künftig eine fingierte Nichteinreise annehmen, ohne dass darauf für sich genommen viel folgte. Es geht vor allem darum, die Bewegungsfreiheit einzuschränken. Dazu muss man nicht einmal das Recht ändern – und zwar aufgrund § 13 Abs. 2 S. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG), der nach den Verwaltungsvorschriften die neue Praxis unproblematisch erfasst. Wenn die Gewerkschaft der Polizei meint, der Bundesgerichtshof habe im Jahr 2015 anders entschieden, verkennt sie, dass die Entscheidung eine Situation betraf, in der keine Grenzkontrollen stattfanden. Dann gilt in der Tat die genannte Vorschrift nicht. Heute, wo Grenzkontrollen bereits bestehen, verhindert weder europäisches noch deutsches Recht, den Plan umzusetzen.

Dennoch sollte man die fingierte Nichteinreise nicht überschätzen. Das Transitverfahren findet auf deutschem Boden statt und es gilt das Grundgesetz ebenso wie die Menschenrechte und die Dublin-Regeln. Die geplanten Transitverfahren sind kein rechtsfreier Raum und die grenzpolizeilichen Einrich-tungen kein rechtliches Niemandsland.

Ausdrücklich heißt es, dass das Transitverfahren "im Rahmen des geltenden Rechts" stattfinden soll. Damit stellt das Papier der Koalition klar, dass die geplanten Zurückweisungen – anders als nach dem ursprünglichen CSU-Vorschlag – nach den Dublin-Regeln durchgeführt werden, also das europäische Rechts nicht einseitig missachten.

Schnelle Dublin-Verfahren: Nicht das Recht ist das Problem

Schnelle Dublin-Verfahren sind allerdings viel leichter versprochen als realisiert. Den deutschen Part können Grenzpolizei und Bundesamt eigenständig organisieren, indem sie die Identitätsprüfung und das persönliche Gespräch zu den einschlägigen Dublin-Zuständigkeitskriterien zügig durchführen.

Ein Expressverfahren setzt freilich voraus, dass auch die zuständigen Staaten sich in den geplanten Verwaltungsvereinbarungen bereit erklären, die Antwortfristen drastisch zu verkürzen und eventuell sogar pauschal alle Personen schnell und unbürokratisch zurückzunehmen, für die ein Eurodac-Treffer vorliegt.

Rechtlich möglich ist dies, aber die Regierung muss diese Abkommen mit den anderen EU-Mitgliedstaaten nun liefern. Nur wenn ihr das gelingt, kann man die "Zurückweisungen", die rechtlich eine Überstellungsentscheidung nach Dubliner Recht darstellen, binnen 48 Stunden vornehmen.

Freiheitsbeschränkung: Zulässig, aber besser mit Rechtsgrundlage

Unklar bleibt, ob die 48-Stunden-Frist auch die tatsächliche Zurückführung umfasst oder nur das Verwaltungsverfahren. Verfassungsrechtlich wäre eine längere Freiheitsbeschränkung kein Problem, solange man die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Flughafenverfahren anwendet.
Damals entschied Karlsruhe nämlich, dass Art. 104 Abs. 2 GG, dem die Frist von zwei Tagen entnommen ist, im Flughafenverfahren nicht gilt, weil die betroffene Person theoretisch jederzeit ausreisen darf und deshalb die Freiheit nur beschränkt und nicht entzogen wird. Selbstverständlich bleibt das Transitverfahren ein Grundrechtseingriff, der zu rechtfertigen ist; allein die längere Unterbringung muss nicht konstitutiv durch einen deutschen Richter angeordnet werden. Nichts anderes folgt – entgegen vereinzelten Äußerungen – aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte (EGMR), der Asylbewerbern in Transitzonen zwar die Freiheit nach der eigenständigen EMRK-Terminologie als "entzogen" ansieht, hierbei aber ebenfalls keinen Richtervorbehalt anordnet.

Stattdessen verfolgt auch der EGMR für Asylverfahren bei der Einreise einen großzügigeren Ansatz. Er lässt – entgegen einer unverbindlichen Empfehlung vom UNHCR – eine geschlossene Unterbringung in Transitbereichen prinzipiell zu und stuft nur lange Verfahren von mehreren Monaten als rechtswidrig einstuft. Hierfür braucht es freilich eine klare Rechtsgrundlage, die zu schaffen der Bundesgesetzgeber doch erwägen sollte.

Dies gilt umso mehr, als nur im Rahmen offizieller Transitzentren, die das deutsche Recht bisher nicht kennt, ein maximal vierwöchiges Grenzverfahren im Sinn des Art. 43 der Asyl-Verfahrensrichtlinie wohl auch an den Schengen-Binnengrenzen zulässig ist, soweit diese offiziell kontrolliert werden. Ansons-ten muss die Haft nach Artikel 8 Abs. 3c der Asyl-Aufnahmerichtlinie in jedem Einzelfall angeordnet werden und unterliegt nach dem Europäischen Gerichtshof einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle.

Selbst bei schneller Zurückweisung: noch eine Woche für den Rechtsschutz

Selbst wenn die Bundesregierung all diese Hürden nimmt, ist eine schnelle Rückführung gleichwohl nicht gesichert. Zum geltenden Recht, das der Koalitionsausschuss unangetastet lassen will, gehört seit dem Jahr 2013 die Mög-lichkeit, gegen eine Dublin-Überstellung einstweiligen Rechtsschutz zu beantragen. Dafür hat einen Asylbewerber eine Woche Zeit – und ausdrücklich heißt es in § 34a Abs. 2 S. 2 AsylG, dass die Abschiebung bei rechtzeitiger Antragstellung "nicht zulässig" sei.

Binnen 48 Stunden mag man also eine Zurückweisung hinbekommen; ihr Vollzug aber dauert auf jeden Fall länger. Allerdings kann es dann mit der Gerichtsentscheidung sehr schnell gehen, wenn die zuständigen bayerischen Verwaltungsgerichte sich intern gut organisieren.

Ich bleibe außerdem bei meiner Auffassung, dass man im Rahmen von kooperativen Verwaltungsvereinbarungen unter Umständen ganz auf einen Eilrechtsschutz verzichten könnte, den auch der EuGH bis vor kurzem nicht einforderte. Dazu müsste im ersten Schritt zunächst einmal das nationale Recht geändert werden.

Viel wichtiger: ein neues Dublin-Verfahren für Deutschland

Der zweite Aspekt des neuen Asylpakets findet in Medien und Öffentlichkeit weit weniger beachtet – und könnte doch mittelfristig die Verwaltungspraxis umgestalten. Man will nämlich das innerstaatliche Dublin-Verfahren refor-mieren und hierfür auch die Gesetze ändern. Die bestehenden besonderen Aufnahmeeinrichtungen nach § 5 Abs. 5 AsylG sollen modifiziert auf alle Dublin-Fälle erstreckt werden. Dies ist deshalb wichtig, weil es nicht nur um Einzelfälle geht, sondern um alle Personen, die im Inland angetroffen wer-den und andernorts bereits registriert wurden.

Die geplante verstärkte Schleierfahndung ist hierbei nur ein Mechanismus, um Asylbewerber schneller zu identifizieren und zentral unterzubringen. Denn die neuen Verfahren betreffen nach dem klaren Wortlaut auch diejenigen, die nicht in Grenznähe angetroffen werden. Bei einer konsequenten Anwendung könnte hiervon die Mehrzahl aller Asylbewerber umfasst sein, die in Deutschland einen Antrag stellen. Das ist das Gegenteil von Mickymaus, es geht um einen asylpraktischen Elefanten.

Dass die Große Koalition hierbei von Ankerzentren spricht, dürfte ein rhetorisches Zugeständnis an die CSU sein. In der Sache kommt es nicht darauf an, ob man diesen Begriff verwendet oder "besondere Aufnahmeeinrichtungen" sagt, die seit 2016 existieren. Wenn dieses Modell konsequent fortentwickelt würde, bestünde künftig für alle Dublin-Fälle eine Residenzpflicht sowie eine zentrale Unterbringung. Und zwar nicht nur bis zur Überstellungsentscheidung, sondern in Anlehnung an das geltende beschleunigte Verfahren bis zur Rückführung.

In den Verhandlungen mit der SPD wurde der Unionskompromiss also rhetorisch abgeschwächt und zugleich eine neue Regelung vereinbart, die ungemein praxisrelevant ist und auch in der Sache vollauf überzeugt. Angela Merkel und Horst Seehofer sollten Andrea Nahles und Olaf Scholz für diesen Impuls danken. Dass zudem das ohnehin geplante Fachkräfteeinwanderungs-gesetz schneller kommen soll, ist auch dann ein Gewinn, wenn es in der Sache mit dem Asylrecht wenig zu tun hat.

Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).

Zitiervorschlag

Daniel Thym, Das Asylpaket der GroKo: Schnellere Dublin-Verfahren jenseits politischer Rhetorik . In: Legal Tribune Online, 06.07.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29619/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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