Arbeitsmarktreform in Frankreich: "Vollständige europäische Vereinheitlichung nicht sinnvoll"

Interview mit Patrick Remy

22.08.2013

In Frankreich trat im Juni 2013 eine umfangreiche Arbeitsmarktreform in Kraft. Der französische Arbeitsrechtler Patrick Remy erklärt im Interview, warum die Reform historisches Ausmaß hat, wieso in Frankreich mehr gestreikt wird als in Deutschland und wie eine 30-jährige Verjährungsfrist für Kündigungsschutzklagen zur Überlastung der Arbeitsgerichte führte.

LTO: Herr Professor Remy, im Mai 2013 verabschiedete das französische Parlament eine Arbeitsmarktreform, die Präsident Hollande als historisch bezeichnete. Was ist an dieser Neuregelung "historisch"?

Remy: Die Reformen am Arbeitsmarkt sind inhaltlich sehr umfangreich. Die Änderungen berühren sowohl  individuelles als auch kollektives Arbeitsrecht. Die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften haben von der gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich als Sozialpartner auf ein umfassendes Reformwerk zu einigen, das nun im Juni in Kraft getreten ist. Das war nicht einfach, denn im Gegensatz zu Deutschland ist die Gewerkschaftslandschaft in Frankreich sehr zersplittert.

"Massenentlassungen sollen erschwert werden"

LTO: Was ändert sich?

Remy: Für die Deutschen dürfte von Interesse sein, dass sich die französischen Reformen auf den ersten Blick an der Agenda 2010 der Regierung Schröder orientieren. Hollande legt Wert auf eine Ausgewogenheit zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen, aber im Sinn einer Flexisecurity  "à la française", also die Vereinbarung einer größeren Flexibilität mit einer Sicherheit für Arbeitnehmer.

Zu den wichtigsten Punkten: Gerät ein Unternehmen in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, so ist es künftig möglich, einen Firmentarifvertrag zu schließen, nach dem etwa die Beschäftigten vorübergehende Lohneinbußen in Kauf nehmen und der Arbeitgeber im Gegenzug betriebsbedingte Kündigungen ausschließt. Das ist in Deutschland nichts Neues, in Frankreich war das bislang nicht möglich.

Die Reform führt zudem Mitbestimmungsrechte ein. Arbeitnehmer können fortan in Aufsichtsräten vertreten sein, allerdings erst ab einer Mindestgröße. Im Gegensatz zu Deutschland dürfen außerdem nur eine sehr geringe Anzahl von Arbeitnehmern – nämlich ein bis zwei – in dem Aufsichtsratsgremium vertreten sein.

Einen Punkt der Reform wird man in Deutschland eher mit Befremden zur Kenntnis nehmen: Massenentlassungen sollen den Arbeitgebern erschwert werden, indem der zugrunde liegende Sozialplan vom Arbeitsministerium genehmigt werden muss. Andernfalls sind die Kündigungen nichtig.

Von 1973 bis 1986 musste sogar jede betriebsbedingte Kündigung von der Verwaltung genehmigt werden. Das hat man nicht wieder eingeführt. Aus gutem Grund: Die Behörden waren damals personell gar nicht in der Lage, jede betriebsbedingte Kündigung zu prüfen und das sind sie auch heute nicht.

LTO: Zwei französische Gewerkschaften haben sich, ebenso wie die Linksfront im Parlament, gegen das Reformpaket  ausgesprochen. Sie sehen die Arbeitnehmer als Verlierer des neuen Gesetzes. Zu Recht?

Remy: Nein. Die Reform ist ein Kompromiss. Gerät ein Unternehmen in die Krise, kann es nicht einfach ohne weiteres Beschäftigte entlassen, sondern muss nun mit den Gewerkschaften verhandeln. Das ist doch ein großer Vorteil für die Beschäftigten.

Darüber hinaus enthält das Übereinkommen neue individuelle (aber auch kollektive) Rechte für die Arbeitnehmer: eine ergänzende Krankenversorgung, ein individuelles Ausbildungskonto, ein freiwilliges "gesichertes" Versetzungsrecht und Beschränkungen für befristete Verträge.

"In Frankreich gibt es keine Tarifautonomie"

LTO: Nähert sich das französische Arbeitsrecht damit an die deutschen Regelungen an?

Remy: Sicherlich bestehen Übereinstimmungen. Unsere Länder haben das gleiche Ziel, nämlich den Sozialpartnern mehr Flexibilität einzuräumen. Es gibt jedoch gravierende Unterschiede. Eine Tarifautonomie wie in Deutschland existiert in Frankreich nicht, der Einfluss des Staates ist bei uns noch sehr groß.

Zudem steht im Kündigungsrecht das deutsche Bestandsschutzprinzip dem französischen Abfindungsprinzip gegenüber. Das heißt, in Deutschland ist die Klage des gekündigten Arbeitnehmers zumindest formell darauf gerichtet, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht, in Frankreich streitet man in der Regel über eine Abfindung.

LTO: Wie sehr spürt man an den französischen Arbeitsgerichten die Auswirkungen der Krise?

Remy: Die Arbeitsgerichte sind eindeutig überfordert. Die erste Instanz besteht bei uns nur aus von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gewählten Laienrichtern, erst in der zweiten Instanz sind die Kammern von Berufsrichtern besetzt.

Zur Entlastung der Justiz hat man mit der Reform die Verjährungsfristen verkürzt. Für deutsche Ohren mag es sich merkwürdig anhören, aber es war bisher möglich, noch nach 30 Jahren eine Klage gegen eine Kündigung einzureichen. Nun liegt die Verjährungsfrist in der Regel bei zwei Jahren.  Das ist natürlich immer noch ein gravierender Unterschied zu Deutschland, wo es eine Drei-Wochen-Frist für eine Kündigungsschutzklage gibt, aber sie müssen berücksichtigen, dass es – wie gesagt – nicht um den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses geht, sondern um eine Abfindung.

"Streikrecht steht nicht den Gewerkschaften, sondern dem einzelnen Arbeitnehmer zu"

LTO: In Frankreich wird viel häufiger gestreikt als in Deutschland. Wieso?

Remy: In Deutschland liegt es in der Hand der Gewerkschaften, zu einem Streik aufzurufen und das auch nur zu bestimmten Zeitpunkten, also nicht während der Laufzeit einer Tarifvertrages (sogenannte relative Friedenspflicht). Bei uns spielt das überhaupt keine Rolle, weil das Streikrecht nicht den Gewerkschaften zusteht, vom öffentlichen Dienst mal abgesehen.

In Frankreich steht dieses Recht dem einzelnen Arbeitnehmer zu, er muss es aber kollektiv ausüben. Kollektiv bedeutet aber nicht etwa alle Arbeitnehmer eines Unternehmens, im Zweifel reichen zwei Beschäftigte für einen Streik aus.

Inhaltlich entsteht das Streikrecht in Frankreich zudem schon dann, wenn ein Mitarbeiter irgendwie  arbeitsrechtlich  individuell betroffen ist. Nehmen Sie zum Beispiel die Rentenreform: In Frankreich wurde dagegen gestreikt, obwohl es sich um ein Gesetz handelte und die Arbeitgeber darauf gar keinen Einfluss haben.

LTO: In Deutschland staunt man ungläubig, wenn die Streikenden wieder einmal ihre Vorstände kurzerhand für ein paar Stunden auf dem Firmengelände einsperren. Gibt es Entscheidungen der Arbeitsgerichte zu solchen Fällen? Ist das in jedem Fall zulässig?

Remy: Selbstverständlich ist es rechtswidrig und auch strafbar, den Vorstand im Unternehmen einzuschließen. Arbeitgeber und Gerichte halten sich in solchen Fällen aber zumeist zurück, damit aus einem kleinen Vorfall in einer aufgeheizten Stimmung nicht ein Flächenbrand wird. Es hat aber durchaus auch schon Fälle gegeben, in denen solche Handlungen strafrechtlich  verfolgt worden sind und die Täter das Unternehmen verlassen mussten.

LTO: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat großen Einfluss auf das Arbeitsrecht der Mitgliedstaaten. Viele nationale Gesetze basieren auf Unionsrecht, etwa das Antidiskriminierungsrecht. Halten Sie es für sinnvoll, ein einheitliches europäisches Arbeitsrecht zu schaffen?

Remy: Das ist weder sinnvoll noch machbar. In Europa haben wir sehr unterschiedliche Rechtsgrundlagen, die ihren Ursprung in unseren verschiedenen Kulturen haben. Selbstverständlich kann man europäische Richtlinien erlassen, die dann in das Recht der Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Das führt zu einer Annäherung.

Darüber hat die europäische Grundrechtscharta eine verbindende Wirkung. Aber da fangen die Probleme schon an: Nach der Charta ist das Streikrecht ein europäisches Grundrecht, aber welche Form von Streik ist damit gemeint? Schon Deutschland und Frankreich liegen hier weit auseinander. Nach den europäischen Verträgen hat die EU im Übrigen gar keine Zuständigkeit für das Streikrecht. Es könnte also gar nicht einheitlich geregelt werden.

LTO: Vielen Dank für das Gespräch.

Patrick Remy ist Maître de Conférences an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne) und ist Mitverantwortlicher der "Groupe d’Etudes Franco Allemand sur le contentieux du travail".

Das Interview führte Christian Oberwetter.

Zitiervorschlag

Patrick Remy, Arbeitsmarktreform in Frankreich: "Vollständige europäische Vereinheitlichung nicht sinnvoll" . In: Legal Tribune Online, 22.08.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9410/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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