Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht?: Der Unter­schied zwi­schen Waffen und Win­deln

Gastbeitrag von Simon Gauseweg

09.08.2018

Deutschland diskutiert über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht. Sie soll den Wehrdienst ersetzen und alle jungen Menschen betreffen. Das kann man schon machen – aber nicht ohne Verfassungsänderung, erklärt Simon Gauseweg.

Gesellschaftsjahr, soziales Jahr, Wehrdienst, Zwangsdienst – die derzeitige Debatte kennt viele Bezeichnungen für den Vorschlag aus den Reihen von CDU und SPD, die ausgesetzte Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht umzuwandeln. Doch obwohl der Vorschlag viele Fragen zur Ausgestaltung offen lässt, ist eines sicher: Ohne eine Verfassungsänderung ist eine Umsetzung nicht möglich, denn der Wortlaut des Grundgesetzes steht dem entgegen.

Die Einführung einer solchen Pflicht hängt dabei gar nicht so sehr von rechtlichen Aspekten ab. Vielmehr wird die Schwierigkeit für die politischen Akteure darin bestehen, die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu finden.

Dieser Beitrag geht bei seiner Bewertung von folgenden Annahmen über die diskutierte allgemeinen Dienstpflicht aus: Erstens, dass sie verpflichtend sei, also mit hoheitlichem Zwang durchgesetzt werden könne. Zweitens, dass sie unterschiedliche Aufgaben vom Dienst an der Waffe über Tätigkeiten im Katastrophen- und Zivilschutz (v.a. Feuerwehr und Rettungsdienste) bis hin zu sozialen Dienstleistungen, etwa in Kindergärten und Pflegeeinrichtungen, abdecke. Und drittens, dass sie allgemein sei, also junge Menschen jeden Geschlechts beträfe.

Oder anders gesagt: wie die alten Wehr- und Zivildienste – nur eben für alle.

Wie die Verfassung zu Dienstpflichten steht

Ein Hindernis für die Einführung von Dienstpflichten ist vor allem Artikel 12 Grundgesetz (GG). Dessen größte praktische Relevanz besteht in seiner Garantie der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Daneben bestimmt allerdings Art. 12 Abs. 2 GG, dass "niemand […] zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden" darf.

Hier liegt der Kern des verfassungsrechtlichen Problems: Art. 12 Abs. 2 GG formuliert ein eigenes, grundrechtliches Abwehrrecht des Einzelnen gegen staatliche Pflichtdienste. Deshalb muss jede Form einer Dienstpflicht entweder vom Schutzbereich ausgenommen oder verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden.

Auf den ersten Blick bietet dazu bereits der zweite Halbsatz des Art. 12 Abs. 2 GG eine Grundlage: Im Rahmen einer "allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht" darf der Einzelne nämlich sehr wohl zu bestimmten Arbeiten (unbestimmter Art) gezwungen werden.

So sehr dies auch nach einer einfachen Lösung für die verfassungsgemäße Einrichtung der derzeit diskutierten allgemeinen Dienstpflicht klingen mag: Die Bestimmung gilt nur für "herkömmliche" Dienstpflichten. Das sind solche, die bereits länger bestehen und von einem traditionellen Pflichtverständnis getragen werden. Das trifft auf die Idee der aktuellen Diskussion aber gerade nicht zu.  Andere Vorschriften müssten eine solche allgemeine Dienstleistungspflicht stützen – oder eben neue dafür geschaffen werden.

Für eine Änderung des Grundgesetzes müssten aber nicht nur Bundesrat und Bundestag jeweils mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit stimmen. Sie müsste sich auch an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG messen lassen. Immerhin: Letzteres Problem dürfte sich – auch angesichts der stehenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Wehrpflicht - schnell in Luft auflösen.

Knifflig: Dienst in sozialen Bereichen

Seit der Aufstellung der Bundeswehr im Jahr 1955 und der ersten Einberufung von Wehrpflichtigen im Jahr 1956 steht fest, dass eine Wehrpflicht in Deutschland grundsätzlich verfassungsgemäß sein kann. Grundlage dafür ist der 1955 eingeführte Art. 12a Abs. 1 GG, der dem Staat diese Möglichkeit explizit einräumt. Er stellt eine Ausnahme des in Art. 12 GG niedergelegten Verbots der Zwangsdienste dar. Art. 12a GG enthält auch die Möglichkeit zur Heranziehung zum Bundesgrenzschutz (heute Bundespolizei).

Als dritte selbstständige Dienstpflicht sieht Art. 12a GG den Dienst in Zivilschutzverbänden vor. Von den Möglichkeiten dieser Pflicht hat der Gesetzgeber bislang keinen Gebrauch gemacht. Inhalt dieser Pflicht sind nichtmilitärische Dienste zum Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen oder den Auswirkungen bewaffneter Konflikte. Allgemeine soziale Dienste, vom Kindergarten bis zum Seniorenheim, sind davon nicht umfasst. So ließe sich die allgemeine Dienstpflicht also nicht verfassungsrechtlich stützen.

Dennoch ist die Verpflichtung zu sozialen Diensten bereits heute verfassungsrechtlich unproblematisch – nämlich als Ersatzdienst für diejenigen Wehrpflichtigen, die den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) verweigern. Die Möglichkeit zu verweigern besteht dabei sogar länger als die Wehrpflicht selbst: Sie war bereits in der Ur-Fassung des Grundgesetzes enthalten. Die Alternative zum Kriegsdienst soll dem Allgemeinwohl dienen: Neben dem "Klassiker", also etwa der Arbeit in Krankenhäusern oder Pflegeheimen, sind das auch Tätigkeiten im Zivil-, Katastrophen- und Naturschutz.

Das ist aber auch gleichzeitig der Knackpunkt: Der Ersatzdienst setzt eine erfolgreiche Verweigerung des Dienstes an der Waffe aus Gewissensgründen voraus. Ohne den Umweg über die Gewissensentscheidung gegen den Dienst an der Waffe sind verpflichtende soziale Dienste hingegen nicht möglich. Denn der Dienst in Zivilschutzverbänden ist von der Ausnahmesituation durch Krieg und oder Katastrophen gekennzeichnet, nicht aber von alltäglichen Krankheiten oder Alterserscheinungen. Soll die allgemeine Dienstpflicht also soziale Dienste gleichwertig neben den Dienst an der Waffe stellen, so bestünde hier erster verfassungsrechtlicher Änderungsbedarf.

Dienst an der Waffe bisher nur für Männer

Das zweite verfassungsrechtliche Problem besteht in der Allgemeinheit der Dienstpflicht. Denn die Möglichkeit zur Dienstpflicht – ob bewaffnet oder nicht – aus Art. 12a Abs. 1 GG besteht nur für Männer. Unabhängig vom Geschlechtsbegriff bedeutet das für alle Nicht-Männer, dass eine an sie adressierte Dienstpflicht gegen die Verfassung verstieße.

Frauen können nach Art. 12a Abs. 4 GG allenfalls im Verteidigungsfall Dienstpflichten unterliegen. Beschränkt sind diese auf "zivile Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation". Da ein solcher Einsatz bedarfsabhängig ist, ist ebenso Voraussetzung, dass diese Dienste nicht auf freiwilliger Grundlage abgedeckt werden können.

Nun umfasst diese Möglichkeit zwar einen Großteil der sozialen Dienste, der Katastrophen-, Natur- und große Teile des Zivilschutzes blieben aber auch im Krieg Männern vorbehalten. Zum Dienst an der Waffe dürfen Frauen explizit "auf keinen Fall" verpflichtet werden.

Soweit sich die allgemeine Dienstpflicht also nicht nur an Männer richten soll, ist auf jeden Fall auch hier eine Verfassungsänderung nötig.

Argumentieren mit der EMRK

Schließlich wurden in der Diskussion um die allgemeine Dienstpflicht auch Menschenrechte ins Feld geführt, namentlich Art. 4 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK).

Dieser bietet einen ähnlichen Schutz wie Art. 12 Abs. 2 GG. Doch auch die EMRK kennt Ausnahmen. Die unterscheiden aber nicht anhand des Geschlechts. Das bisherige System mit Wehrdienst, Wehrersatzdienst und der Möglichkeit zum Zivilschutzdienst könnte also für alle verpflichtend eingerichtet werden, ohne die EMRK zu verletzen.

Problematisch sind auch hier wieder die sozialen Dienste, die bei der angedachten allgemeinen Dienstpflicht wohl zahlenmäßig den Löwenanteil ausmachen dürften. Denn wie auch das deutsche Grundrecht geht die EMRK von Dienstpflichten für Krisenprävention und -situationen aus. Ständige Daueraufgaben einer Gesellschaft oder gar die Schaffung eines Gemeinwohlgefühls, womit in der Debatte zum Teil argumentiert wird , sind eher nicht erfasst.

Auf den politischen Willen kommt es an

Das Grundgesetz in seiner derzeitigen Fassung verbietet eine allgemeine Dienstpflicht also ziemlich eindeutig. Es besteht ein explizites Verbot, Frauen zum Dienst an der Waffe zu verpflichten. Im Bezug auf das Geschlecht der Dienstpflichtigen müsste das Grundgesetz also geändert werden.

Es böte sich an, bei dieser Gelegenheit die sozialen Dienste explizit mit in den Katalog des Art. 12a GG aufzunehmen, um gleichzeitig auch dieses geschilderte Problem aus der Welt zu schaffen. Mit diesen zwei Änderungen wäre eine allgemeine Dienstpflicht dann verfassungsrechtlich unbedenklich. Insbesondere müsste sie so – über die Verfassungsänderung hinaus – nicht noch gesondert gerechtfertigt werden. Denn dass eine zeitlich befristete, allgemeine Pflicht zu bestimmten Diensten den Kernbereich des Art. 12 GG antastet, ist abwegig.

Ob die allgemeine Dienstpflicht kommt, ist daher weniger vom Recht selbst abhängig als vom politischen Willen, die Verfassungsänderungen herbeizuführen.

Der Autor Simon Gauseweg gehört zu einem der letzten Jahrgänge, die zum neunmonatigen Wehrdienst eingezogen wurden. Später wurde er Reserveoffizier. Inzwischen ist er Diplom-Jurist und Akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

Zitiervorschlag

Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht?: Der Unterschied zwischen Waffen und Windeln . In: Legal Tribune Online, 09.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30249/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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