Zum Geburtstag von Wassily Kandinsky: Am Anfang war der Heu­haufen

Als der 30-jährige promovierte Jurist Wassily Kandinsky eines Tages in einer Moskauer Ausstellung vor Claude Monets Bild "Der Heuhaufen" stand, ärgerte er sich über den vermeintlich ungenauen Malstil des französischen Impressionisten. Kandinsky beschloss, es besser zu machen. Er wurde selber Maler.

Wassily Kandinsky wurde als Sohn eines ostsibirischen Teehändlers am 4. Dezember 1866 in Moskau geboren. Nach einem Umzug nach Odessa besuchte er ab 1876 das dortige Gymnasium. Schon damals zeigte er sich multitalentiert. Er erhielt deshalb noch privaten Mal- und Zeichenunterricht, zudem wurden seine musikalischen Talente gefördert.

Ein begeisterter Kriminalanthropologe

Anders als viele juristisch ausgebildete Künstler widmete sich Kandinsky im Anschluss an das Abitur in Moskau mit Hingabe dem Studium der Rechtswissenschaften. Außerdem studierte er noch Nationalökonomie und Ethnologie.

Ein Schwerpunkt seiner Studieninteressen galt den damals modernen kriminal-anthropologischen Thesen von Cesare Lombroso über die Zusammenhänge zwischen Kriminalität und physiognomischen Besonderheiten von Tätern. So bekannte Kandinsky später, dass er die Beschäftigung mit diesen Thesen "vielleicht etwas zu weit getrieben" habe. Dennoch schwärmte er:

"Die juristischen und nationalökonomischen Wissenschaften habe ich geliebt. Mit Dankbarkeit denke ich jederzeit an Begeisterung und möglicherweise Eingebungen, die ich den Studien mit ihnen schulde."

Auf Empfehlung eines Professors erhielt der 23-jährige einen besoldeten Forschungsauftrag der "Kaiserlichen Gesellschaft für Naturwissenschaften, Ethnografie und Anthropologie" in Moskau. Der Auftrag führte Kandinsky in die Dörfer am Fuße des nördlichen Ural, wo er die teilweise jahrhundertealten Rechtsbräuche der Landbevölkerung sammelte und aufschrieb. Sein brillanter Bericht wurde begeistert aufgenommen.

Während des Studiums fand Kandinsky noch ausreichend Zeit, sich auch eingehend mit der Moskauer Kunstszene zu beschäftigen, wobei er auch selber malte und zeichnete. Das Familienvermögen ermöglichte außerdem mehrere Bildungs- und Kunstreisen nach Frankreich.

Glänzende Aussichten für eine große Juristenkarriere

Mit einer Prüfungsarbeit über das Wesen des Dienstvertrages legte Kandinsky 1892 das juristische Abschlussexamen ab. Er wurde Assistent der Juristischen Fakultät an der Moskauer Universität und heiratete seine Cousine Anna Tschimjakin. Im folgenden Jahr  beendete er seine Dissertationsarbeit mit dem Titel "Über die Gesetzmäßigkeit der Arbeiterlöhne". Kandinsky wurde Privatdozent.

1896 erreichte ihn ein Ruf an den ordentlichen Lehrstuhl für Rechtswissenschaften der estnischen Kreishauptstadt Dorpat. Doch jetzt geschah etwas Außergewöhnliches: Der Besuch einer Ausstellung französischer Impressionisten in Moskau mit der eingangs erwähnten Betrachtung des Monet’schen Meisterwerks veranlasste Kandinsky zum plötzlichen Abbruch seiner juristischen Karriere. Der hochbegabte Jurist lehnte die Professur ab.

"Begeisterung und Hingabe für die Wissenschaften, die ich geliebt habe," so Kandinsky später, "verblassten gegenüber der Kunst, denn sie allein ließ mich Zeit und Raum vergessen."

Kunstausbildung in München und Murnau

Nachdem er seine widerstrebende Ehefrau Anja überredet hatte, übersiedelte das Paar 1896 nach München – die damals führende Kunststadt Mitteleuropas. Von 1897 bis 1899 besuchte er hier zunächst eine private Malschule; ab 1900 nahm er Zeichenunterricht an der Kunstakademie München, wo er auch Paul Klee kennen lernte.

Ruhelos, ohne messbare Erfolge und ohne künstlerische Anerkennung gründete Kandinsky 1901 die Künstlervereinigung "Phalanx". Er lehrte an der ebenfalls neu gegründeten Malschule dieser Vereinigung und lernte dabei die Malerin Gabriele Münter kennen, die, nach seiner Scheidung von Anja, über zehn Jahre lang seine Lebensgefährtin werden sollte.

Die nächsten Jahre waren geprägt von Zurückweisungen und Studienreisen. Für Kandinskys Weiterentwicklung wurde Murnau am Staffelsee eine entscheidende Station. Dort kam es im Sommer 1908 zu einer bedeutungsvollen Zusammenarbeit mit den russischen Malern Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky. In kurzer Zeit entwickelte sich Kandinsky durch die weit fortschrittlicher malenden Kollegen zu einem herausragenden expressionistischen Maler.

"Der Blaue Reiter"

Kandinskys zweiter Berufsweg als Maler verlief von nun an noch erfolgreicher als sein Karrierebeginn als Jurist. In seinem 1910 veröffentlichten kunsttheoretischen Werk "Der blaue Reiter" forderte er die Erneuerung der Kunst. Es kam zu einer Trennung von „Phalanx“. Zur Verbreitung der eigenen Kunstauffassung gründete Kandinsky gemeinsam mit Franz Marc den Kunstkalender "Der Blaue Reiter".

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs veranlasste Kandinsky zur Flucht in die Schweiz. Von dort aus reiste er nach Russland weiter, wo er hauptsächlich in Moskau lebte. 1917 heiratete er mehr oder weniger spontan die junge Nina Andreewsky, nachdem er sich von Gabriele Münter getrennt hatte.

Innerhalb der russischen Kunstszene nahm Kandinsky mehrere wichtige Positionen wahr, doch die Einschränkungen der Kunstfreiheit im Zuge der russischen Revolution ließen ihn einem Ruf von Walter Gropius an das Weimarer Bauhaus folgen, wo er fortan zwölf Jahre lang als Lehrer tätig wurde. Nach der Auflösung des Bauhauses durch die Nationalsozialisten emigrierte Kandinsky nach Frankreich. Seine Werke wurden in Deutschland als "entartete Kunst" diffamiert und beschlagnahmt.

Der Maler starb am 13. Dezember 1944 in seinem Wohnort Neuilly-sur-Seine bei Paris. Der frühere Jurist zählt heute zu den Meistern der "abstrakten" Malerei.

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Zitiervorschlag

Jürgen Seul, Zum Geburtstag von Wassily Kandinsky: Am Anfang war der Heuhaufen . In: Legal Tribune Online, 13.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2142/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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