Produkthaftung und Entschädigungsrecht: Gela­tine-Bon­bons und ver­fol­gungs­be­dingte Zahn­schäden

von Martin Rath

25.09.2016

Beim Griff in eine bunte Mischung Rechtsprechung zu Zahnschäden stellt man überraschend fest: Um Zucker geht es nur ganz selten. Umso häufiger um die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit. Ein etwas böses Stück Zeitgeschichte von Martin Rath.

Beginnen wir mit der süßen Seite: Am 28. September 2009 begab sich ein Herr aus Bielefeld zum Zahnarzt. Als Mitarbeiter eines Vereins für Jugendarbeit habe er, so erklärte er es seinem Dentisten und später auch vor Gericht, am vorangegangenen Samstag, dem 26. September, anlässlich eines Sommerfestes seines Vereins ein "Fruchtgummi des Typs 'große Cola-Flasche'" verzehren wollen. Diese Cola-Flasche habe er aus einer herumgereichten Big-Box entnommen und in den Mund gesteckt. Beim Kauen des Fruchtgummis habe er ein Knacken seiner Zähne gehört und einen starken Schmerz verspürt.

Im Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamm, das bald vier Jahre später in dieser Sache erging, wird die daran anschließende – zunächst noch private – Beweisaufnahme bis hin zu den gutachterlichen Stellungnahmen ausführlich referiert. Auf das Ausspucken des Fruchtgummis folgte die Untersuchung des Zahnbruchguts, das sich neben der Gelatine-Speichel-Mischung ebenso in der Hand des Jugendarbeiters fand wie ein mutmaßliches Stück Stein. Der Zahnarzt stellte Schäden fest, Gutachter beugten sich über Härtevergleiche an Zahn- und mutmaßlichem Fruchtgummisteingut.

Stein-Verdacht im Fruchtgummi? – Schmerzensgeld

Das OLG Hamm verurteilte die beklagte Fruchtgummi-Herstellerin dazu, die Kosten für die Überkronung der Zähne 25 und 26  zu erstatten und ein Schmerzensgeld von 2.000 Euro zu zahlen, Rechtsgrundlage §§ 1 Abs. 1, 4 Abs. 1, 8 Produkthaftungsgesetz (Urt. v. 23.5.2013, Az. 21 U 64/12).

Über Menschen, die einen Schaden haben, soll man nicht spotten. Daher sei nur ganz nüchtern festgehalten, dass der mutmaßlich fruchtgummigeschädigte Kläger zur Begründung seines Schmerzensgeldanspruchs nicht allein anführte, den Schmerz beim Zahnarzt ertragen zu haben.

Er gab auch an, er habe nun "Angst, sich bei dem Verspeisen vergleichbarer Süßigkeiten erneut zu verletzen. Deshalb sei ihm ein unbeschwertes Genießen von entsprechenden Produkten nicht mehr möglich. Dies begründe für ihn einen Verlust an Lebensqualität."

Zahnarzt als Bösewicht, Ausreißer im Heile-Welt-Kino

Schweifen wir für andere Zahnschadensfragen kurz in die Sozialgeschichte der TV- und Kinoprodukte ab. 

Wer vor einem üblen Zahnarzt flieht, muss viel herumlaufen. Dass auch die Suche nach einem guten viel Laufarbeit erfordert, kommt dagegen nicht vor: Im Film "Der Marathon-Mann" spielt Dustin Hoffman den New Yorker Geschichtsstudenten Babe Levy, der durch familiäre Verstrickung beim deutschen Zahnmediziner Christian Szell (gespielt vom großen Laurence Olivier) in den Verdacht gerät, im Besitz von Diamanten zu stehen, die Szell als KZ-Arzt von jüdischen Gefangenen erfoltert hatte und nun auf seiner Flucht nach Südamerika benötigt. 

In einer berühmten Szene des Films bohrt Szell dem entführten Babe Levy in einem gesunden Zahn herum und stellt eine für sein Opfer unverständlich bleibende Frage nach dem Verbleib der Diamanten: "Is it safe?" – Der schmerzhaft Angebohrte weiß gar nicht, wonach er damit befragt wird. Diese Szene mag vorbildlich sein für die Idiotie der Folter als Mittel der Wahrheitsfindung. 

Interessant könnte sie in unserem Zusammenhang aus einem anderen Grund sein. Der "Marathon-Mann" kam 1976 heraus, trug nebenbei sicher einiges dazu bei, dass der Laufsport – vor New Yorker Kulisse – weltweit in Mode kam, und vor allem verwundert ein bisschen: Bis 1994, als die US-Erfolgsserie "Emergency Room" startete, galt die Darstellung der Medizinalberufe in US-amerikanischen Filmprodukten eigentlich eher als süßlich-verkitscht bis zur ästhetischen Geschmacksgrenze, war Heile-Welt-Kino im Maßstab der "Schwarzwaldklinik".

Lag das Zahn-Thema in der Luft?

Diese böse Karikatur des heilkundigen Dentalhandwerkers, zwanzig Jahre bevor das Ärztefilmwesen eine Wendung ins halbwegs Realistische nahm: Möglicherweise war sie ein fernes Echo aus New York auf die Spruchpraxis des Bundesgerichtshofs zu Karlsruhe.

In einer speziellen Fallgruppe ging es dort oft um Zahnarztkosten, bedingt wahrscheinlich durch das bis heute so verheerenden Krankenversicherungsrecht der USA. Nicht selten wohnte die Klägerin oder der Kläger inzwischen in New York. Regelmäßig wies der Bundesgerichtshof die sofortige Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurück. Manchmal gab er statt, dann lag meist ein bürokratischer Fehler zugrunde, nicht etwa ein Problem des deutschen Rechts schlechthin.

Es ging um Fälle wie diesen: "Die 1922 in Nelipeno, Tschechoslowakei, geborene jüdische Klägerin war von April 1944 bis 1. Mai 1945 in Haft, seit 20. Mai 1944 in den Konzentrationslagern Auschwitz und Ravensbrück. Anschließend hielt sie sich in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei auf. Seit 1948 lebt sie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika", hält beispielsweise der Tatbestand zum BGH-Urteil vom 10. Mai 1973 (Az. IX ZR 113/71) fest: "Die Klägerin beantragte 1954 Entschädigung für Gesundheitsschaden und führte ein Magengeschwür, chronische Diarrhoe, eine Nervenkrankheit sowie ein Zahnleiden auf die Verfolgung zurück."

Fälle aus der Wiedergutmachungsjustiz

In diesem Fall entschied die Entschädigungsbehörde mit Bescheid vom 25. November 1964, zehn Jahre nach Antragstellung, dass der früheren KZ-Gefangenen eine Kapitalentschädigung von 1.200 Mark sowie ein Heilverfahren "für einen nervösen Spannungszustand seit 2. Mai 1945" zustehe. Eine Rente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit stehe ihr nicht zu, weil diese unter 25 von Hundert liege.

Der BGH hob hier das Urteil des OLG Koblenz nur auf, weil der Klägerin keine Gelegenheit gegeben worden war, sich zum Anspruch auf ein Heilverfahren wegen des Verlusts "von vier Unterkiefer-Schneidezähnen" zu erklären. Dem Anschein nach hatte der Gutachter des Entschädigungsamts beim Durchstreichen von möglichen Gesundheitsschäden im Formblatt geschlampt. Es muss damals in Entschädigungssachen von NS-Opfern mit viel ärztlichem Feinsinn gearbeitet worden sein.

Hatte das Tatgericht im Rechtsstreit dagegen formvollendet gearbeitet, hatten die Kläger in Karlsruhe kaum eine Chance. Für die 1960er und 1970er Jahre sind zahlreiche Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision in Entschädigungssachen dokumentiert, die vom BGH zurückgewiesen wurden – immer wieder geht es um Zahnschäden und psychische Störungen, die nach Auffassung der Oberlandesgerichte nicht der nationalsozialistischen Verfolgung zuzurechnen waren.

Juristische Traumatologie, im Beispiel (Beschl. v. 28.9.1966, Az. IV ZB 170/66): "Hier war nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Klägerin nach Abschluss der Verfolgung sowohl in Italien als auch in den USA mehrfach und lange Zeit ohne Unterbrechung berufstätig. Die seelischen Störungen der Klägerin haben sich nicht in den an die Verfolgung anschließenden Jahren, sondern erst erheblich später, nämlich 13 oder 14 Jahre danach, eingestellt."

Die Tbc hat er aus dem KZ, den Prothesenschaden nicht

Mitunter tun sich Abgründe der Wiedergutmachungsjustiz auf, beispielsweise im Urteil des 4. BGH-Zivilsenats vom 6. Februar 1963 (Az. IV ZR 246/62):

"Der jüdische Kläger erhält seit 1953 wegen einer verfolgungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit in Höhe von 100 % eine Rente. Als Verfolgungsschäden wurden im Bescheid der Entschädigungsbehörde vom 9./12. Juni 1953 eine aktive Bauchfell- und Darm-Tbc sowie Verletzungsfolgen an der rechten Hand anerkannt. Zur Behandlung seiner Bauch-Tbc begab sich der Kläger am 24. Juni 1955 in das H.S. Krankenhaus in St. Dieses überwies ihn für die Zeit vom 27. Juli bis 3. August 1955 dem K.hospital in St. zur Zahnherdsanierung. Dabei wurden neun Zähne, die Eiterherde an den Wurzeln hatten, extrahiert. Die durch diese Behandlung entstandenen Kosten wurden von der Entschädigungsbehörde ersetzt. Nach der Zahnextraktion ließ sich der Kläger Prothesen für den Ober- und Unterkiefer anfertigen. Über den Anspruch des Klägers auf Erstattung der dadurch entstandenen Kosten verglichen sich die Parteien."

Der BGH verurteilte das Land Baden-Württemberg schließlich zur Zahlung der Kosten einer Reparatur besagter Prothesen – über die Forderung in Höhe von zuletzt 66 Mark befanden vor dem BGH das Landgericht Stuttgart – in zwei Durchgängen – sowie das OLG Stuttgart.

Nein, daraus wird hier keine Moral gezogen

Wer je mit depressiven Menschen zu tun hatte, ob von klinischem Format oder knapp vor der Therapiewürdigkeit, hat oft eine Ahnung, wie sehr sich das Leiden in den Zähnen niederschlagen kann. 

Insoweit ist es schade, dass seinerzeit den approbierten Handwerkern der zahnverarbeitenden Industrie kein rechtlicher Anreiz geboten wurde, sich systematisch psychotherapeutisch fortzubilden. Soweit ihre Namen ersichtlich sind, lässt sich bei einigen der ärztlichen Gutachter ermitteln, dass sie vor 1945 NSDAP-Mitglieder waren. Expertise für Angstpatienten erwuchs in diesen Kreisen wohl eher nicht.

Dem Bielefelder Gummifruchtopfer sei es jedenfalls gegönnt, dass es – in den Händen sensibler Juristen – auch seine Furcht vor künftigem Naschwerkzahnbruch thematisieren konnte. Ob die zurückhaltende Bearbeitung von Gesundheitsschäden unter NS-Opfern einem guten Geist entsprang, darüber kann man an einem 25. September, dem erklärten "Tag der Zahngesundheit", einmal nachdenken.

Zur Entspannung danach empfehlen sich vielleicht die DVD mit dem Dustin-Hoffman-Film von 1976 und eine Tüte Gummi-Bonbons.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Produkthaftung und Entschädigungsrecht: Gelatine-Bonbons und verfolgungsbedingte Zahnschäden . In: Legal Tribune Online, 25.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20671/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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