Rechtsgeschichten: Sicher tot und doch verschollen

von Martin Rath

22.03.2015

Dass auch in Zeiten moderner Überwachungstechnik und omnipräsenter Mobiltelefone Menschen einfach spurlos verschwinden können, zeigen nicht allein die Fälle rätselhaft verschollener Verkehrsflugzeuge. Das 20. Jahrhundert brachte viele grauenhafte Ereignisse, um die Lücken des deutschen Verschollenheitsrechts unter Beweis zu stellen. Von einem makabren Fall aus dem März 1955 erzählt Martin Rath.

Wenn die Schwägerin mit dem Schwager über den Todeszeitpunkt von Frau, Kindern und Schwiegermutter des Mannes streitet, bewegen wir uns im klassischen Drama oder in der jüngeren Rechtsgeschichte. Die Angelegenheit, die der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayOLG) vom 22. März 1955 dokumentiert (Az. BRega 2 Z2, 10-52-54/55), könnte tragisch genannt werden, wäre das Adjektiv "tragisch"" durch das Mediengeplapper nach jedem unschönen Verkehrsunfall nicht so furchtbar abgenutzt.

Man kann sich für den folgenden Sachverhalt aber unschwer auf das Adjektiv "makaber" einigen: Am 13. Mai 1945 waren nach Angaben des BayOLG-Beschlusses die Bäuerin Wilhelmine S. und deren Tochter Wilma H. durch Suizid verstorben. Damit nicht genug: "Die beiden Frauen nahmen auch ihre Kinder bzw. Enkelkinder Karl-Heinz und Günther H. mit in den Tod."

Melitta L., die Tochter bzw. Schwester der Suizidentinnen, beantragte 1952, dass als Zeitpunkt des Todes der vier Personen der 13. Mai 1945 festgestellt werden solle. Diesem Antrag entsprach das zuständige Amtsgericht nach verschollenheitsrechtlichen Normen. Der verwitwete Ehemann und seiner Söhne beraubte Vater Karl H. beantragte 1953 dagegen, die Todeszeitfeststellung dahingehend zu ändern, dass "die Kinder Karl-Heinz und Günter am 13.5.1945 erst nach ihrer Mutter Wilma H. gestorben sind".

Verschollenheitsrecht in den Randzonen des Krieges

Schwager und Schwägerin trugen ihre Auseinandersetzung hier auf der Grundlage des Verschollenheitsrechts aus. Artikel 2 § 1 Absatz 1 Verschollenheitsänderungsgesetz (VerschÄndG v. 15.1.1951, BGBl. I, S. 59) besagt: "Wer vor dem 1. Juli 1948 im Zusammenhang mit Ereignissen des letzten Krieges vermißt worden und seitdem unter Umständen, die ernstliche Zweifel an seinem Fortleben begründen, verschollen ist, kann für tot erklärt werden."

Die Schwägerin erhielt die genannte verschollenheitsrechtliche Feststellung und beantragte die Erteilung eines Erbscheins. Der Witwer und verwaiste Vater, dem unabhängig davon die Todesurkunden zu Frau und Kindern bereits vorlagen, sah sich, hier wird es nun ein bisschen makaber, in seinen rechtlichen Interessen verletzt: Nach seinem Kenntnisstand waren seine Kinder nach ihrer Mutter verstorben, die folglich, wie der BayOLG-Beschluss weiterdenkt, "von ihm und ihren Kindern beerbt und er wiederum Alleinerbe der Kinder sei". 

Nachlasskalkulationen unter Verschollenheitsbedingungen

Nach dem Kalkül des Mannes war also der ganze Nachlass seiner Frau auf ihn übergegangen. Das entgegengesetzte Kalkül der Schwägerin: Sollten die Kinder vor oder zugleich mit ihrer Mutter verstorben sein, wäre ihr Schwager neben ihr als Verwandter der 2. Ordnung nur zur Hälfte an der Erbschaft seiner Frau beteiligt.

Ein Zeuge hatte einen der Söhne allerdings "in den Vormittagsstunden des 13.5.1945 noch weinend und schreiend" mit den Worten gehört: "Die Oma hat jetzt die Mutti tot gemacht", doch war dies nach den verschollenheitsrechtlichen Feststellungen zunächst unerheblich. Das Amtsgericht hatte hier auf § 11 Verschollenheitsgesetz (VerschollG) zurückgegriffen: "Kann nicht bewiesen werden, daß von mehreren gestorbenen oder für tot erklärten Menschen der eine den anderen überlebt hat, so wird vermutet, daß sie gleichzeitig gestorben sind."

Diese Ungenauigkeit der amtsgerichtlichen Feststellung wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht im Beschluss vom 22. März 1955 allerdings ebenso getadelt wie der Griff zu einer weiteren Legalfiktion, § 9 Abs. 4 VerschollG: "Ist die Todeszeit nur dem Tage nach festgestellt, so gilt das Ende des Tages als Zeitpunkt des Todes."

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten: Sicher tot und doch verschollen . In: Legal Tribune Online, 22.03.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15002/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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