Jahrhundert-Rückblick: Juris­ti­scher Zeit­geist, ein­ge­fangen

von Martin Rath

01.01.2017

1997 – Orthografie: Bildungsbastion wird geschleift

FAZ, "Süddeutsche" und "Spiegel" kapitulierten erst zum 1. Januar 2007, nachdem einige der teils schier unfassbaren Mängel der sogenannten Orthografie-Reform ausgemerzt worden waren.

Zehn Jahre zuvor herrschte, was die neu regulierte Rechtsschreibung betrifft, noch das nackte Grauen vor. Ein hervorragendes Beispiel gab das Verwaltungsgericht Hannover mit Beschluss vom 7. August 1997 (Az. 6 B 4318/97), der dem niedersächsischen Kultusministerium vorläufig aufgab, die Tochter der Antragstellerin nicht nach der "Amtliche(n) Neuregelung der deutschen Rechtschreibung" von 1996 unterrichten zu lassen.

Selten hat man einen Beschluss gelesen, in dem das Pathos derart dick aufgetragen wird. Das Gericht macht sich u.a. ein Wort der Präsidenten-Gattin Elly Heuß-Knapp zu eigen: "… ich glaube, daß ein Volk zur Einheit wird durch die gemeinsame Geschichte und die seelenbildende Gewalt der Sprache".

"Seelenbildende Gewalt der Sprache", man fragt sich, ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht. Gesprochene und geschriebene Sprache sind dem Gericht eins: "Die Schreibung teilt Eigenart und Rechtsschicksal der Sprache. Beide gehören nach herkömmlicher pädagogischer Auffassung zusammen." Eigentlich sollte doch der berüchtigte "Lehrer mit Rechtsschutzversicherungen" die Juristen gelehrt haben, dass man nicht den unkritischen Schulterschluss mit der Pädagogen-Branche suchen sollte.

Bei allen Ärgernissen, die mit der Reform-Schreibweise verbunden waren oder sind: Wer ein amtliches Dokument sucht, das im Abstand von 20 Jahren dazu dringend einlädt, kontroverse Themen ein wenig nüchterner zu diskutieren, wird beim Verwaltungsgericht Hannover fündig.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Jahrhundert-Rückblick: Juristischer Zeitgeist, eingefangen . In: Legal Tribune Online, 01.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21627/ (abgerufen am: 22.04.2024 )

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