Ehe für alle?: Umstürz­le­risch geht anders

von Martin Rath

02.07.2017

2/2: USA entdecken moderne Grundrechtsschranke

Die Strafvorschriften gegen die Polygamie fanden und finden stärkeres Interesse. Schuld daran mag ein "sex sells" sein. Sex schlägt Geld. – Über die stockkonservative Bewegung, Lesben und Schwulen die bürgerliche Ehe zu öffnen, unterhält sich unsere Gesellschaft heute ja auch lieber als z.B. über die langfristigen Auswirkungen des ehelichen Güterrechts auf die biologische Reproduktion der Gesellschaft.

Doch ist diese Sichtweise, mit Blick auf das Mormonen-Problem, ein bisschen unfair. Das Polygamie-Verbot verdient erhebliche Aufmerksamkeit. So hatte der U.S. Supreme Court anhand des Mehreheverbots über das Gewicht einer sonst sehr veritablen Verbriefung der amerikanischen Verfassung zu entscheiden: In der Rechtssache Reynolds v. United States befand das Gericht mit Urteil vom 6. Januar 1878, dass das –1862 explizit gegen die konfessionellen Überzeugungen der mormonischen Religionsgemeinschaften in Kraft gesetzte, jedenfalls erneuerte – Verbot nicht gegen die im 1. Verfassungszusatz von 1790 enthaltene Trennung von Staat und Kirche sowie die Bekenntnisfreiheit verstoße.

George Reynolds (1842–1909), ein mormonischer Geistlicher britischer Herkunft war 1875 zu 300 Dollar Strafe und zwei Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er zugleich mit zwei Frauen verheiratet gewesen war. Der U.S. Supreme Court bestätigte einstimmig, dass der religiöse Glaube eines Angeklagten "nicht als eine Rechtfertigung für seine Begehung einer offenen Handlung angenommen werden kann, die vom Gesetz des Landes ('law of the land') für strafbar erklärt ist".

Mit feinen Unterschieden der mormonischen Theologie zwischen einer Ehe im hergebrachten und einer irgendwie mehr in der Geisterwelt besiegelten Verbindung – Religion ist ja eine schöne Sache, wenn es darum geht, normativ sein sollende Distinktionen zu treffen – hielt man sich seit dem Gesetz vom 1./8. Juli 1862 von Rechts wegen nicht unbedingt auf, solange die Mehrfacheheleute nur realiter einigermaßen zusammenlebten und den Anschein erweckten, sie hielten ihr Konkubinat auch normativ in irgendeiner Form für verbindlich – und nicht bloß für normale Unzucht.

Konfessionelles Normkraftwerk abgeschaltet

Der avantgardistische Versuch der mormonischen Gläubigen, eine westliche Rechtsordnung um das Institut der parallelen Mehrehe zu erweitern – heute wird diese ja eher seriell absolviert –, war damit unter den vielleicht besten Voraussetzungen gescheitert. Immerhin hätte die sonst so radikal interpretierte Verbriefung konfessionellen Freiheiten im 1. Zusatzartikel zur US-Verfassung greifen müssen. Der U.S. Supreme Court bewegte sich hier aber recht nah an der Begründungstautologie.

Damit nicht genug. Seit dieser Zeit wird am Versuch, mit der Gründung einer Religionsgesellschaft normativ etwas Neues für eine Gesellschaft auf die Beine zu stellen – soweit es über privates Hausfrauen-Yoga hinausgeht – mehr als nur Anstoß genommen. Die Fackel des Fortschritts hat Fundamentalisten-Bärte zu sengen, nicht umgekehrt. Zu denken gibt nur, welch Potenzial z.B. die humanistischen Lehren der Bahai im Nahen Osten oder das Christentum in der Einparteiendiktatur Chinas entwickeln könnten, wären sie – neben der Staatsgewalt – nicht auch noch dem Vorwurf ausgesetzt, schon im Ansatz überholt zu sein.

Jene Politiker, die in den USA des 19. Jahrhunderts – ggf. militärisch – gegen die mormonische Mehrehe intervenierten, waren sich der Bedeutung ihres Kampfes viel bewusster. Die Befürworter des "Morrill Anti-Bigamy"-Gesetzes glaubten, einen Krieg gegen gleich zwei moralische Scheußlichkeiten ihrer Epoche zu führen, die sie als durchaus gleichwertig ansahen: mormonische Bigamie in Utah und die Sklaverei in den Südstaaten.

Der pittoreske Einmarsch von US-Truppen im Utah-Gebiet, 1857, und das vermeintlich nur noch unter dem "sex sells"-Gesichtspunkt interessante Bigamie-Verbotsgesetz vom 1./8. Juli 1862 bekommen im Gleichklang des Schlachtrufs – gegen Vielweiberei, gegen Sklaverei – jenes Gewicht, das sie für unsere Gegenwart haben: Arbeitskraft soll nur in Marktbeziehungen verfügbar sein, die biologische Reproduktion der Gesellschaft nur in – jetzt auch seriell – monogamen Beziehungen organisiert werden.

Die Form der letzteren anderweitig auszuborgen, soll eine umstürzende Idee sein? Es ist zum Augenrollen.

Was wirklich grundstürzend ist: US-Juristen und -Militärs brachten in der Anti-Bigamie-Kampagne die gesellschaftlichen Gestaltungsansprüche der Propheten zum Schweigen. Das ist etwas, das in derart zentralen Fragen auf Dauer zählt.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Ehe für alle?: Umstürzlerisch geht anders . In: Legal Tribune Online, 02.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23338/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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