Rechtsgeschichte: Wenn Juristen über Kaffee streiten

von Martin Rath

09.02.2020

Vor 125 Jahren stellte das Reichsgericht die geradezu faustische Frage nach dem Wesen des Kaffees - freilich ohne sie zu beantworten. Immerhin: Seit 1930 wissen Juristen jedenfalls, was kein Kaffee sein soll.

Der Zwang, Entscheidungen zu begründen, lässt Richter manchmal zu merkwürdigen sprachlichen Mitteln greifen. Das fällt besonders auf, wenn der Fall relativ schlicht wirkt. Ein Beispiel dafür gab das Reichsgericht vor 125 Jahren mit einer frühen Entscheidung zum vergleichsweise modernen Lebensmittelrecht. Zu würdigen war die Farbe von Kaffee.

Ein Kaufmann aus Bochum, einer der vielen aufblühenden Städte im Ruhrgebiet, hatte die von ihm gerösteten Kaffeebohnen mit dem "Zusatz von einem Theelöffel Ocker auf 150 Pfund Kaffee" verkauft. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hatte er durch den Zusatz dieser wohl mineralischen oder aus Braunkohle hergestellten Farbe den Kaffee strafwürdig verfälscht.

Die Sache war unklar. Eine eindeutige Regelung, wie Kaffee beschaffen sein müsse, lag den Richtern trotz zweier Gesetze, die nicht zuletzt dem industriellen Fortschritt Deutschlands Rechnung tragen sollten, nämlich nicht vor.

Das "Gesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen" vom 14. Mai 1879 hatte nur die Polizei ermächtigt, Geschäftsleute zu überwachen, die "Nahrungs- und Genußmittel" oder "Spielwaaren, Tapeten, Farben, Eß-, Trink- und Kochgeschirr" oder Petroleum zum Verkauf anboten. Künftig sollten durch Kaiserliche Verordnung unter anderem auch bestimmte Arten der Nahrungsmittelherstellung oder -verpackung sowie Farben und sonstige Zusatzstoffe verboten werden können.

Konkret war das aber noch nicht: Das Gesetz drohte nur in einer unbestimmten Form mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 1.500 Mark – zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise das Doppelte eines Facharbeiter-Jahreslohns – "wer zum Zwecke der Täuschung im Handel und Verkehr Nahrungs- oder Genußmittel nachmacht oder verfälscht" (§ 10 Nr. 1).

Auch nicht zur Klarheit trug das "Gesetz, betreffend die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der Herstellung von Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen" vom 5. Juli 1887 bei, das vorrangig verbot, (halb-)metallische Elemente wie Arsen, Blei, Cadmium, Chrom oder Uran in Farben für die Lebensmittelherstellung zu verwenden.

Auf das schwierige Gebiet der organischen Chemie wagte sich der Gesetzgeber angesichts der seinerzeit boomenden deutschen Chemieindustrie nicht. Auch unverfänglich mineralischer oder aus Braunkohle gewonnener Ocker fiel gar nicht erst unter das Farbengesetz.

Wie der Kaffee zu seiner Wesens-Frage kam

Der Kaffeeröster aus dem Ruhrgebiet hatte den Ocker-Zusatz damit begründet, er habe "die Verflüchtigung des Aromas durch die Poren der Kaffeebohnen" verhindern und dem "Kaffee ein besseres gleichmäßiges Aussehen" geben wollen.

In der Absicht zum Kaffeeporenschluss sahen die Reichsrichter den Wunsch, den Kaffee zu verbessern. Das war nicht verboten. Fraglich war aber, ob die Verbesserung des Aussehens durch den Ockerzusatz geeignet war, die Kundschaft über die Qualität der Kaffeebohnen zu täuschen.

Hierzu fanden die Reichsrichter verwinkelte Sätze, die entfernt an die berüchtigte Definition des Begriffs "Eisenbahn" erinnern:

"Aus der zweiten Erwägung [zum gleichmäßigen Aussehen, MR] aber kann nur der Schluß gezogen werden, daß nicht über das Wesen des Kaffees und seinen Wert getäuscht, sondern daß nur das Aussehen an sich verbessert werden sollte und verbessert worden ist. Daß der Vorderrichter von dieser Ansicht ausgeht, ist sowohl daraus zu entnehmen, daß er den Kaffee und gerade dem besseren in seinem ursprünglichen Zustande ein unansehnliches, zerstückeltes Aussehen beilegt und hervorhebt, daß nur, um dieses Äußere zu verbessern, nicht also um dem Kaffee den Anschein besserer Qualität zu verleihen, die Portorico- und Guatemalakaffees bereits gefärbt exportiert werden, als auch aus der ferneren Ausführung, daß der Wert des Kaffees überhaupt nicht nach dem Aussehen, sondern nach dem Geruch und Geschmack zu beurteilen ist. Der Vorderrichter konnte daher ohne Rechtsirrtum die Frage, ob der Angeklagte durch den Ockerzusatz dem Kaffee den Schein einer besseren Beschaffenheit hat verleihen wollen, verneinen, und die staatsanwaltliche Revision zieht mit Unrecht den Schluß, daß, weil die Färbung des Kaffees zu dem Zwecke vorgenommen worden, um der Ware ein besseres gleichmäßiges Aussehen zu geben, ihr schon deshalb der trügerische Anschein einer höherwertigen und besseren Beschaffenheit verliehen, der Standpunkt des kaufenden Publikums, wenn auch nicht entscheidet, so doch zu berücksichtigen ist."

Nur eine Veränderung der Beschaffenheit, die über das "wahre Wesen" des als Nahrungs- oder Genussmittel verkauften Produkts zu täuschen geeignet war, sollte demnach strafwürdig sein. Leider hatte sich der Gesetzgeber knapp gefasst, was Beispiele für derartige Wesensveränderungen betraf. Bereits benutzte Teeblätter durch Farbe als frisch erscheinen zu lassen, wurde immerhin erwähnt.

Der Röster aus dem Ruhrgebiet war damit freizusprechen (Reichsgericht, Urt. v. 11.02.1895, Az. 4996/94).

Wesensaussagen im Recht taugen meist nicht viel

Unter dem Titel "Das Wesen des Wesens: Studien über das sogenannte Wesensargument im juristischen Begründen" publizierte 1964 der Zivilrechtsgelehrte Wilhelm A. Scheuerle (1911–1981) eine breit ausfächernde Darstellung im sonst eher trockenen "Archiv für civilistische Praxis" (AcP 163, S. 429–471).

Drei Jahre später sollten hier regelrecht übermütige "Studien über Tricks und Schleichwege im juristischen Begründen" unter dem Titel "Finale Subsumtionen" folgen. Der leichte Übermut wunderte nicht, Scheuerle war ordentlicher Professor in Mainz geworden.

Indem das Reichsgericht das Beispiel der Teeblätter anführte, hätte es einen durch das "Wesen des Kaffees" versteckten Analogieschluss ziehen können: Kaffee sei erst dann durch Färbung verfälscht, wenn er seine Funktion – seine extraktionswürdigen aromatischen und psychoaktiven Bestandteile – verloren habe. So konkret hatten es die Richter am 11. Februar 1895 aber gar nicht gemeint. Ihnen war es mit dem Beispiel der benutzten und eingefärbt in Verkehr gebrachten Teeblätter nur um die Aussage gegangen, dass die Kaffeebohnen in irgendeiner Weise stärker in ihrem wie auch immer gearteten Wesen hätten verändert sein müssen als nur durch Ockerfarbe verschönt.

Wendet man Scheuerles Wesenslehre an, lag damit ein unzulässiges Kryptoargument vor – die Tatrichter hatten keine verbindlich subsumierbaren Anhaltspunkte erhalten, wann von einer Wesensveränderung des Kaffees künftig auszugehen sein würde.

1930: Wesen des Kaffees wird konkreter bestimmt

Erstmals hinreichende Klarheit darüber, was in Deutschland das Wesen des Kaffees ausmacht, ist zwei Verordnungen aus dem Jahr 1930 zu verdanken, die die Unterschrift von Joseph Wirth (1879–1956) tragen, eines bis in die junge Bundesrepublik stark umstrittenen linkskatholischen Zentrums-, dann CDU-Politikers.

Die "Verordnung über Kaffee" vom 10. Mai 1930 bestimmte in § 1 Abs. 1: "Kaffee (Kaffeebohnen, Bohnenkaffee) sind die von der Fruchtschale vollständig und von der Samenschale (Silberhaut) nach Möglichkeit befreiten, rohen oder gerösteten, ganzen oder zerkleinerten Samen von Pflanzen der Gattung Coffea." § 2 verbot, Kaffee mit "gesundheitsschädigenden Farbstoffen" zu färben.

Gerösteter Kaffee durfte nun nicht mehr "künstlich gefärbt", eine etwaig minderwertige Qualität nicht durch "Farb- oder Überzugsstoffe verdeckt" werden (§ 5). § 3 der Verordnung regelte, was als verdorbener Kaffee nicht mehr in den Verkehr gebracht werden durfte: u.a. durch See- oder Flusswasser beschädigter Havariekaffee, verschimmelter oder zu einem erheblichen Teil verkohlter oder solcher Kaffee, der "einen so fremdartigen und widerwärtigen Geruch oder Geschmack aufweist, daß er zum Genuß ungeeignet ist".

Mit dieser ästhetischen Kaffeerechtssprache des Jahres 1930, die bis hin zum zulässigen Verkohlungsgrad von Malzkaffee alles klärte, was man zum Wesen des (Ersatz-)Kaffees wissen wollte, können die heutigen, europarechtlich geprägten Regelungen der "Verordnung über Kaffee-, Kaffee- und Zichorien-Extrakte" vom 15. November 2001 nicht konkurrieren – mehr als hässliche Verweisungstechnik bietet sie nicht.

Ließe sich über das Wesen des Kaffees nicht mehr sagen?

Was am rechtlichen Wesen des Kaffees relevant ist, lässt sich damit heute in subsumtionsfähiger Form materiellen Gesetzen entnehmen.

Ein wenig bedauerlich ist, dass mit dieser Klarheit die fast ein bisschen existenzialistische Frage abhandenkam, was "wesenhaft" mit dem Kaffee einhergeht. Der vormalige Rechtsreferendar und Kabarettist Matthias Beltz (1945–2002) spottete schon seinerzeit, dass die Frage nach der "Leitkultur" durch die nach einer "Leitdroge" zu ersetzen sei. Während Beltz sich damals auf Drogen konzentrierte, die Deutschland spalten – z.B. in das Bier der CSU,  in den Rotwein der Toskana-Fraktion – eint der Kaffee die westlichen Gesellschaften.

In seiner Studie "Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft" zeigte der Historiker Wolfgang Schivelbusch (1941–), wie wertvoll der Kaffee war, um seit dem 17. Jahrhundert das zuvor vom Alkohol durchtränkte Abendland – Biersuppe zum Frühstück, Biersuppe zu Mittag, Biersuppe am Abend – ins helle Licht der koffeinierten Aufklärung zu führen. Nicht zufällig nahm etwa die moderne Finanzindustrie spätestens 1688 von einem Kaffeehaus ihren Ausgang, dem Lloyd's in London.

Sogar die Eingliederung Deutschlands in die westliche Wertegemeinschaft beschritt nach 1945 auch die Wege des Kaffeeschmuggels – noch in den 1990er Jahren berichtete etwa ein gestandener Bankrechts-Professor davon, als kleiner Junge hier erste Erfahrungen auf dem Schwarzmarkt der Nachkriegszeit erworben zu haben.

Kurz: Auch die Früchte des Coffea-arabica-Strauchs zählen zu den Voraussetzungen, die der freiheitliche, säkularisierte Staat nicht selbst garantieren kann.

Zitiervorschlag

Rechtsgeschichte: Wenn Juristen über Kaffee streiten . In: Legal Tribune Online, 09.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40189/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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