Rechtsgeschichten: Göttliche Heimsuchungen und animalische Triebe

von Martin Rath

13.04.2014

2/2: Sagt der Blick ins Gesetz: "Na und?"

Kein überraschender Befund, könnte man mit einem Blick ins aktuelle deutsche Gesetz meinen, sieht § 20 Strafgesetzbuch (StGB) doch auch vor, dass "ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."

Große Gemeinsamkeit stellt sich jedoch nicht ein: Ermittelt das Gericht hierzulande von Amts wegen, muss im US-amerikanischen Strafprozess grundsätzlich die Verteidigung den Beweis erbringen, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht zwischen Gut und Böse, richtig oder falsch entscheiden konnte. Weil damit regelmäßig eingestanden werden muss, dass der Tatbestand erfüllt wurde, ist die "insanity"-Verteidigungsstrategie unbeliebt – glaubt die Jury zum Beispiel nicht, dass im Wahn gehandelt wurde, ist eine vollumfängliche Verurteilung nahezu sicher.

Inzwischen haben die US-Strafrechtsordnungen bei der M’Naghten-Frage, ob der Angeklagte zwischen "richtig" und "falsch" habe unterscheiden können, erhebliche prozessuale Verschärfungen eingeführt. Historischer Auslöser war John Hinckley (geb. 1955), der 1981 das Attentat auf Ronald Reagan beging (übrigens um damit die Aufmerksamkeit von Jodie Foster zu gewinnen) und seinerzeit mit der "insanity"-Verteidigung erfolgreich war.

Einzelne Bundesstaaten erlauben, so Belt, gar keine Verteidigung wegen geistiger Störung. In Utah scheinen Verbrecher prinzipiell kerngesund zu sein. Die meisten anderen Staaten stellen so hohe Anforderungen an den Beweis der Unzurechnungsfähigkeit, dass nur rund ein Prozent aller wegen eines Verbrechens Angeklagten überhaupt den Versuch unternehmen, "insanity" zum Tatzeitpunkt zu behaupten. Und auch von diesen dringen nur 15 bis 25 Prozent vor Gericht durch.

Nach Reagan kam Gott wieder ins Spiel

"Konnten Sie zum Tatzeitpunkt wirklich und überhaupt nicht den gesetzlichen und / oder moralischen Unwert Ihrer Handlung einsehen?" Viel mehr als diese Frage stellen Verteidiger ihren Mandanten im Vorfeld des Prozesses damit wohl gar nicht mehr, weil abgestuftere Wertungen, die mehr als ein nacktes "ja" oder "nein" zulassen, vor Gericht wenig Aussicht haben, Gehör zu finden.

Als eine Möglichkeit, dieser Antwort ein wenig aus dem Weg zu gehen, sieht Rabina Belt die für europäische Ohren kuriose "deific decree doctrine". Mit ihr beruft sich der Angeklagte darauf, bei der Tat einem göttlichen Befehl gefolgt zu sein – wenngleich dieser, in der Annahme, dass Gott für das Gute steht, fehlinterpretiert worden sei. Dieses archaisch anmutende Argument war zu Zeiten, bevor die moderne, an einer fehlverschalteten Biomasse des (Verbrecher-)Gehirns interessierte Psychiatrie auf den Plan trat, ein immerhin mögliches Mittel zur gerichtlichen Verteidigung.

Ein Kritikpunkt an dieser bizarren Dogmatik liegt darin, dass gewisse Tätergruppen – zum Beispiel Frauen, die in einer postnatalen Depression Straftaten gegen das Kind begehen – fast zwangsläufig abgeurteilt werden, weil ihnen selten völlig das (moralische) Unrechtsbewusstsein fehlt. Gotteswahn sei überwiegend bei männlichen Beziehungstätern anzutreffen.

Wie weit die Wertungen beim Verständnis von Schuld auseinandergehen können, zeigt auch die – streckenweise ganz wunderbar irrwitzige – Interpretation, die der kalifornische Nachwuchsjurist Warren Ko zu einem weiteren Attentat vorgelegt hat. Unter dem Titel "The Cruelest Irony: Monica Seles and Her Struggle With German Justice" spielt er gedanklich durch, wie der Fall des Günther Parche, der 1993 die Tennisspielerin Monica Seles verletzt hatte, im Vergleich von US-amerikanischer und deutscher Schuldfähigkeitsdoktrin zu bewerten sei. Diese einmalige Gelegenheit, das deutsche Strafrecht mit seinen Dogmen und Distinktionen lieben zu lernen, sollte man sich nicht entgehen lassen. Denn die kalifornische Kritik ist so schräg, dass man sie schon im Original lesen muss.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten: Göttliche Heimsuchungen und animalische Triebe . In: Legal Tribune Online, 13.04.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11679/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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