Kaum ein Dokument hat unter Religionsgegnern ein schlechteres Ansehen als das Abkommen Deutschlands mit dem Heiligen Stuhl zu Rom. Doch mit Urteil vom 26. März 1957 nahm das BVerfG dem Reichskonkordat viel von seiner Wirkungsmacht.
In Hannover dürfte man 1954 heilfroh gewesen sein, die föderalen Fliehkräfte in den eigenen Landesgrenzen in den Griff bekommen zu haben:
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Land Niedersachsen zum 1. November 1946 aus den dem Land Hannover, der vormaligen preußischen Provinz gleichen Namens sowie den Freistaaten Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zusammengefügt worden. Ein Vorgang, der damals nicht nur lokalpatriotische Nostalgiker mit den Hufen scharren ließ.
Ein wesentliches Element der neuen staatlichen Einheit Niedersachsens war das neue Schulrecht, für das bisher in den konfessionell unterschiedlich geprägten Landesteilen je eigene Vorschriften existierten.
Niedersächsisches Schulrecht verstößt gegen Völkerrecht
Im neuen niedersächsischen Schulgesetz von 1954 war eine ganze Anzahl von Vorschriften enthalten, an denen der Heilige Stuhl zu Rom Anstoß nahm, darunter § 2:
In [öffentlichen Schulen] werden die Schüler ohne Unterschied des Bekenntnisses und der Weltanschauung gemeinsam erzogen. In Erziehung und Unterricht ist auf die Empfindungen Andersdenkender Rücksicht zu nehmen.
Vorschriften des niedersächsischen Schulgesetzes wie diese waren vielfach nicht mit dem sogenannten Reichskonkordat von 1933 zu vereinbaren. Dieser völkerrechtliche Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich war im Wesentlichen vor der Machtübergabe an Adolf Hitler ausgehandelt worden, doch verschaffte er der erst seit sechs Monaten im Amt befindlichen NS-Regierung Renommee und schwächte die katholisch-konservative Opposition.
In Artikel 24 Absatz 2 des Reichskonkordats, das die Verhältnisse der katholischen Kirche in Deutschland klärte, hieß es beispielsweise:
Im Rahmen der allgemeinen Berufsausbildung der Lehrer werden Einrichtungen geschaffen, die eine Ausbildung katholischer Lehrer entsprechend den besonderen Erfordernissen der katholischen Bekenntnisschule gewährleisten.
Das Problem der katholischen Kirche mit dem niedersächsischen Gesetz illustriert sein § 6:
Die Lehrer werden auf Universitäten und Hochschulen ausgebildet, an denen Forschung und Lehre frei sind.
Die Beispiele ließen sich in großer Zahl fortführen.
Regierung Adenauer interveniert via Karlsruhe
Die Bundesregierung beantragte deswegen beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Feststellung, dass das Reichskonkordat weiterhin gültig sei, und gleichzeitig die Prüfung, ob das niedersächsische Schulgesetz mi diesem völkerrechtlichen Vertrag vereinbart werden konnte.
Mit so einem Vorstoß ließ sich damals Tagespolitik machen: Weite Bevölkerungskreise sahen sich durch die konfessionellen Durchmischung bisher religiös homogener Landstriche Westdeutschlands verunsichert - eine Folge der Vertreibung vieler Menschen nach dem Krieg. So waren nach dem Ende des NS-Staats die Kirchen vorübergehend gut gefüllt, sei es in Konsequenz des "tausendjährigen" geistigen Ruins, sei es wegen der Suche nach einem Ort, an dem Autorität und Folgschaft noch gefragt waren.
Mit den Problemen der "Mischehen" zwischen Katholiken und Protestanten bis zu den schulpolitischen Herausforderungen von Kindern unterschiedlicher Konfession ließen sich Wahlkämpfe bestreiten.
BVerfG schwächt Wirkung des Reichkonkordats
Das BVerfG lieferte dem Bundeskanzler mit Urteil vom 26. März 1957 (Az. 2 BvG 1/55) jedoch nicht das gewünschte Ergebnis zur rechtlichen und/oder politischen Intervention in die Schulpolitik der Länder.
Das Reichskonkordat von 1933 bestehe zwar weiter, jedoch lasse sich aus Artikel 123 Absatz 2 Grundgesetz (GG) nicht schließen, dass die Länder an seine Vorgaben gebunden seien, so die Richter. Vielmehr lasse sich aus den Artikeln 7, 30, und 70 ff. GG unschwer die ausschließliche Zuweisung des Schulrechts an die Länder erkennen.
In eine umfassende Prüfung, wie weit der Bund als Rechtsnachfolger des Reiches gegenüber dem Heiligen Stuhl zur Wahrung der kirchlichen Rechte auf dem Gebiet des Schulrechts verpflichtet sei und inwiefern das niedersächsische Schulrecht dem Konkordat zuwiderlaufe, stieg der Zweite Senat des BVerfG daher gar nicht ein.
2/2: Das Reichskonkordat – eine Wundertüte
Als wohl bekannteste Vereinbarung zwischen einem deutschen Staat und einer Religionsgemeinschaft zieht das Reichskonkordat bevorzugt die Kritik kirchen- oder religionskritischer bis -feindlicher Kreise auf sich. Es steht auch durchaus zu Recht im Zentrum der Auseinandersetzungen, wenn auch nicht unbedingt aus den Gründen, die seine Gegner meistens anführen.
Beispielsweise stritt sich Anfang der 1950er Jahre die Rechtsnachfolgerin der französisch-reformierten Kirche im seit 1938 zu Hamburg gehörenden Altona mit der Freien und Hansestadt Hamburg um einen Betrag von jährlich 500 bis 700 Reichsmark. Eine Forderung, die daraus resultierte, dass der dänische König im Jahr 1820 unter Aneignung einiger Vermögensgegenstände die hugenottische Gemeinde in Glückstadt aufgelöst und den Altonaer Glaubensbrüdern gegen das Versprechen von 320 Talern die konfessionelle Versorgung der restlichen Glückstädter Reformierten aufgegeben hatte. Die Herrschaft des dänischen Königs über Altona beendeten 1866 die Preußen, die preußische Staatsgewalt in Hamburg 1938 die NS-Regierung in Berlin. Aber über die Erklärungen des dänischen Königs hatte 1953 der Bundesgerichtshof (BGH) zu richten (Urt. v. 08.05.1953, Az. V ZR 132/51).
Es ist also nicht wahr, dass allein die Katholiken des Staatskirchenrecht zu einem verzwickten Gebiet machen. Gleichwohl setzt die römische Kirche Maßstäbe, wo man sie nicht vermuten mag.
Den Restkatholizismus des Zeugen Jehovas prüfen
Mit Urteil vom 11. Dezember 1969 (Az. VIII C 46.68) entschied das Bundesverwaltungsgericht beispielsweise über den Musterungsbescheid, den ein Mann mit dem Job des "Sonderpionierverkündigers" erhalten hatte. Es handelt sich nicht etwa um einen altertümlichen Ausdruck für "Bundeswehr-Presseoffizier", vielmehr nennen die Zeugen Jehovas ihre Prediger "Pioniere".
In der Prüfung der Frage, ob sich ein solcher Prediger zu militärischen Diensten zwingen lassen müsse, blickten die Verwaltungsgerichte selbstverständlich auf die Regelungen des Reichskonkordats, mit dem katholischen Klerikern ein sogenanntes privilegium immunitatis zugesichert wurde – ein Schutz vor staatlichen Obliegenheiten, die das kanonische Recht Klerikern auszuüben verbietet.
Bitter, aber wahr: Auch 452 Jahre nachdem Martin Luther seine anti-römische Reformation startete, mussten sich die Prediger noch der Rom-fernsten Religionsgesellschaften von staatlichen Richtern daran messen lassen, wie weit ihr Berufsbild dem des katholischen Geistlichen mit seinen Konkordats-Vorrechten entspricht.
Kompliziert sind die Verhältnisse dort, wo das Konkordat nicht aufgeräumt hatte, zum Beispiel im weiten Feld von Ansprüchen, die sich aus Kirchenpatronaten ergeben. So übte sich der BGH etwa in einem Urteil vom 20 September 1955 (Az. V ZR 202/54) darin, eine in lateinischer Sprache abgefasste Urkunde aus dem Jahr 1618 auszulegen, auf die sich die Zahlungsverpflichtung einer nordrhein-westfälischen Kommune gegen die Kirche stützen lassen sollte. So etwas hatte das Konkordat weder bedacht noch geregelt.
Kanonisches Recht, wettbewerbsrechtlich gespiegelt
Regelrecht hinreißend ist auch ein Urteil des BGH vom 21. Oktober 1966 (Az. Ib ZR 138/64), das der Frage nachgeht, in welcher Weise ein "Dekret der heiligen Ritenkongregation aus 1957" über die deutschen Katholiken gekommen sei. Es heißt:
"Mehrere Ortsoberhirten haben bei dieser Hl. Kongregation angefragt, ob das Dekret Nr. 4147 vom 14. Dezember 1904 noch in Geltung sei, wonach 'die ins Taufwasser einzutauchende Osterkerze und die zwei bei der Messe anzuzündenden Kerzen wenigstens zum größten Teil aus Bienenwachs bestehen, andere auf den Altären gebrauchte Kerzen jedoch zum größeren oder beachtlichen Teil aus Bienenwachs bestehen sollen'."
Ein Kerzenhersteller, der behauptete, seine Kerzen und Brennöle würden den katholischen Vorschriften entsprechen, war von einem Wettbewerber auf Unterlassung verklagt worden, weil er den Brennstoffen andere Substanzen als Bienenwachs bzw. Olivenöl zugegeben hatte.
Die Bundesrichter müssen in der Prüfung der kirchenrechtlichen Voraussetzungen der Brennstoff-Zusammensetzung nach kanonischem Recht und ihrem durch das Reichskonkordat in Deutschland gegebenen Status einige Freude gehabt haben, denn letztlich war primär das Wettbewerbsrecht einschlägig.
Überflüssiges Wissen?
Die erwähnten Entscheidungen zu dem Ansprüchen hugenottischer Hamburger gegen die Rechtsnachfolger des dänischen Königs, zum Kirchenpatronat aus dem Jahr 1618, über das der BGH 1955 verhandelte, nicht zuletzt das entzückende Bienenwachsurteil von 1966 – man kann sie, anders als die Konkordats-Entscheidung vom 26. März 1957, unter dem Rubrum "überflüssiges Wissen" verbuchen.
In ihren juristischen und historischen Bezügen – warum verhandelt der Bundesgerichtshof das überhaupt? – sind sie aber so wunderbar verzwickt, dass beispielsweise Oberstufen-Schüler und Jura-Anfangssemester an ihnen hervorragend prüfen könnten, ob sie wirklich Spaß an der Rechtwissenschaft finden werden.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Das Reichskonkordat von 1933 vor dem BVerfG: Ein (un)heiliger Pakt . In: Legal Tribune Online, 26.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22475/ (abgerufen am: 28.03.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag