Justiz in der Weimarer Republik: Reichsgericht zum Reichstumult

von Martin Rath

02.06.2013

Die Inflation galoppierte,  in der Bevölkerung gärte es: 1923 war für die Weimarer Republik das schwerste Jahr seit ihrer Gründung. Die höchsten deutschen Richter mussten in dieser Zeit über rheinische Spione, Friedensverträge und Unruhen urteilen und schwankten zwischen Politik, Recht und Patriotismus. Martin Rath hat die Entscheidungen des RG aus dem Sommer 1923 nachgeschlagen.

Es ist die Zeit von Elizabeth Bowes-Lyon (1900-2002), die am 26. April 1923 den zweitgeborenen englischen Königssohn heiratete. Als Liebhaberin von Hunden, vor allem aber von Pferden hat man die alte Dame in Erinnerung, der böse Zungen auch eine gewisse Leidenschaft für den Gin nachsagten. Als jüngere Frau tritt sie im Oscar-prämierten Film "The King’s Speech" von 2010 auf, in dem sie hilft, besagten Königssohn vom Stottern zu heilen. Das Deutsche Reich hatte zur damaligen Zeit jedoch mit ganz anderen Schwierigkeiten zu kämpfen.

Im Januar 1923 besetzten belgische und französische Truppen das Ruhrgebiet, vorgeblich um ein "Pfand" für die Reparationszahlungen zu nehmen, die Deutschland nach dem Versailler Vertrag von 1919 zu leisten hatte. Bevölkerung und Beamtenschaft der besetzten Gebiete reagierten mit passivem Widerstand, doch nicht durchgängig. Im gleichfalls besetzten Rheinland übte sich etwa der gerichtsbekannte Journalist Josef Friedrich Matthes (1886-1943) als "Ministerpräsident" einer "Rheinischen Republik". Rückhalt erhielt er dafür nicht.

Dolmetschen für die Besatzer ist Spionage

Im Gegenteil, im 58. Band der Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Strafsachen findet sich die Spur des juristischen Umgangs mit solch hochverräterischen Abenteuern: Am 3. Mai 1923 verwarf das Reichsgericht zu Leipzig die Beschwerde eines Lokomotivheizers der Reichsbahn gegen seine Inhaftierung (Beschl. v. 3.5.1923, Az. 11 J 91/23): Der noch nicht lange bei der Bahn beschäftigte Mann habe sich, so der greifbare Vorwurf, am 11. April 1923 von der französischen Besatzungsmacht als Dolmetscher anwerben lassen. Ohne dass ihm ein Verrat von Dienstgeheimnissen vorzuwerfen war – schwer denkbar für einen Heizer – genügte das für den Verdacht für die Franzosen als "Spion" gearbeitet zu haben, dienten die Dolmetscherdienste doch der Anwerbung anderer Reichsbahnbeamter im Sinne der Besatzungsmacht.

Drei Wochen nach Anwerbung als "Spion" schon in Untersuchungshaft – zudem als Täter, nicht etwa als Tatbeteiligter? Gestützt wurde die Inhaftierung und die Zuständigkeit des Reichsgerichts auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten, Friedrich Ebert von der SPD, deren § 1 formulierte: "Mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslangem Zuchthaus wird bestraft, wer während der in Friedenszeiten erfolgten Besetzung deutschen Gebiets durch eine fremde Macht dieser in wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Angelegenheiten als Spion dient oder Spione dieser Macht aufnimmt, verbirgt oder ihnen Beistand leistet." Die kurze Notverordnung (v. 3.3.1923, RGBl. I, 159), die derart drakonisch in den Rechtsfolgen und gummiartig im Tatbestand war, schloss mit einem barschen § 4: "Für die Aburteilung (!) ist das Reichsgericht zuständig."

Geldstrafe bis zu fünfhundert Millionen Mark

Was aus dem Lokomotivheizer wurde, lässt sich nicht nachvollziehen. Matthes, der als Hochverräter nur mäßig begabte Möchtegern-Ministerpräsidenten des Rheinlands, ging zunächst nach Frankreich ins Exil, wurde entgegen einer völkerrechtlich vereinbarten Amnestie an der Rückkehr nach Deutschland gehindert und starb 1943 im Konzentrationslager Dachau. Immerhin wissen wir von Frau Bowes-Lyon, dass sie einem englischen Prinzen half, bei Rundfunkreden nicht zu stottern.

Das Jahr 1923 sollte aufregend bleiben. So mühte sich am 9. November ein vormaliger informeller Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes, sich an die Macht zu putschen, die Inflation galoppierte: "Neben Freiheitsstrafe ist auf Geldstrafe bis zu fünfhundert Millionen Mark zu erkennen", heißt es in § 2 der erwähnten Notverordnung. Zum juristischen Erstsemesterwissen zählt die Aufwertungsentscheidung des Reichsgerichts in Folge der Inflation (Urt. v. 28.11.1923, RGZ 107, 78): Mit der inflationär entwerteten Mark konnte man seine Schulden damit nicht mehr voll begleichen – Reichsgerichtsräte auf der Suche nach Vertrauen in die Staatsgewalt.

Das Reichstumultschadensgesetz

Gerade heraus äußert sich diese Suche in einem Urteil zum sogenannten Reichstumultschadensgesetzes (Urt. 8.6.1923, Az. III 746/22): Bei Unruhen in Oberhausen, die unter anderem die mangelhafte Ernährungslage verursacht hatte, war am 6. Juli 1919 der Ehemann und Vater der Kläger durch eine Gewehrkugel zu Tode gekommen. Geschossen hatten Angehörige des Reichswehrjägerbatallions Nr. 7, beklagt war folglich das Deutsche Reich.

In der Frage, ob Witwe und Waisen ein Versorgungsanspruch zustand, war die Rechtslage bald so verwirrend wie die politische Lage mit ihren zahllosen regionalen und reichsweiten Aufständen und Putschversuchen zwischen 1918 und 1923. Das sog. Reichstumultschadensgesetz vom 12. Mai 1920 (RGBl. S. 941) sah Entschädigungsansprüche bei Schäden an Eigentum, Leib oder Leben bereits vor, wenn diese "im Zusammenhange mit inneren Unruhen durch offene Gewalt oder durch ihre Abwehr unmittelbar verursacht" wurden. Das Tumultschadensgesetz wurde bereits am 15. Juli 1922 durch ein "Personenschädengesetz" abgelöst, das den Personenkreis enger fasste, auf "Reichsangehörige, die durch den letzten Krieg innerhalb oder außerhalb des Reichsgebiets Schädigungen an Leib oder Leben erlitten haben".

Zitiervorschlag

Martin Rath, Justiz in der Weimarer Republik: Reichsgericht zum Reichstumult . In: Legal Tribune Online, 02.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8823/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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