Nachkriegsrecht: "Rez. glaubt nicht, daß damit Recht gespro­chen ist"

von Martin Rath

23.07.2017

Im Sommer 1947 versuchten zwei Gerichte in einer Zivil- und einer Arbeitsrechtssache, über das Unrecht der Vorjahre zu entscheiden. Ihre Ergebnisse waren unbefriedigend, die Kritik daran aber erstaunlich hellsichtig.

Erst im November 1947, zweieinhalb Jahre nach dem Kriegsende in Europa, sollte die US-Militärregierung für ihre Zone – Bayern, Bremen, Hessen und Nordwürttemberg/Nordbaden – das sogenannte Rückerstattungsgesetz erlassen, mit dem die Eigentums- und Erbschaftsverhältnisse geregelt wurden, die aus der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung politischer Gegner und jüdischer Bürger in Deutschland resultierten.

Dieses Gesetz Nr. 59 der Militärregierung klärte unter anderem, wie mit dem Eigentum jener Familien umzugehen war, deren sämtliche Angehörigen ermordet worden waren, stellte Bedingungen für Menschen auf, für die der Gang zum Notar einer Selbstauslieferung an die Gestapo entsprochen hätte und zog den gutgläubigen Erwerb in Frage, wenn sich für die "arischen" neuen Besitzer der legalisierte Raub fremden Eigentums allzu offensichtlich hätte ergeben müssen.

Rechtsunsicherheit für Shoah-Überlebende

Zweieinhalb Jahre sind eine lange Zeit für Überlebende, die über Jahre hinweg systematisch entrechtet, beraubt, in ihrer physischen Existenz bedroht wurden und ihr Überleben in einer Welt vor Erfindung des Sozialstaats sichern mussten.

Die britische Militärverwaltung sollte gar erst im Mai 1949 tätig werden. Dem amerikanischen Vorbild mochte die Labour-geführte Regierung in London nicht ganz folgen. Man sah es nicht gerne, dass herrenlos gewordene Vermögenswerte jüdischen Überlebenden im britischen Mandatsgebiet Palästina zugutekamen.

In der französischen Besatzungszone herrschten noch einmal andere Rechtsverhältnisse, von der sowjetischen ganz zu schweigen.

Noch in die Zeit vor Erlass des Rückerstattungsgesetzes für die US-amerikanische Besatzungszone in Deutschland fallen zwei Entscheidungen, die weniger wegen ihres Inhalts als wegen der hellsichtigen Kritik daran Aufmerksamkeit verdienen – und sei es nur als Anreiz für jeden Nachgeborenen, sich mit dem Geist des bürgerlichen Rechts anzufreunden.

Landesarbeitsgericht Mannheim: Sklavenarbeit

In den Sachverhalt führt das LAG Mannheim wie folgt ein:

"Der Kläger ist staatenlos und jüdischer Abstammung. Er war früher in Polen wohnhaft. Er wurde im Herbst 1942 als Elektriker zu der Beklagten dienstverpflichtet, die damals als Sub-Unternehmerin der Siemens-Bau-Union im Rahmen des Ostbahn-Programms der Deutschen Reichsbahn im Bezirk Krakau Arbeiten auszuführen hatte. Bis 15.12.42 erhielt der Kläger seinen vorgeschriebenen Lohn von 0,60 RM pro Stunde."

Am 14. Dezember 1942 erließ der SS- und Polizeiführer für den Distrikt Krakau eine Verordnung, die es u.a. der Siemens-Tochter verbot, jüdischen Arbeitskräften ein Entgelt zu zahlen. Stattdessen hatten die Unternehmen für jeden jüdischen Zwangsarbeiter eine Gebühr an die SS-Kasse abzuführen, je Mann fünf Zloty, je Frau vier Zloty täglich.

Entsprechend stellte das Unternehmen der Siemens-Gruppe die Zahlung an den Elektriker ein. Der Mann überlebte – im geografischen Zentrum des nationalsozialistischen Mordprogramms – und klagte 1947 auf Zahlung des ausstehenden Lohns.

Das Arbeits- und das Landesarbeitsgericht Mannheim (Urt. v. 26.06.1947, Az. Ss 7/47) befanden aber, dass Siemens durch die Verordnung des SS-Polizeiführers in eine Lage "nachträglich eintretender, unverschuldeter Leistungsunmöglichkeit" geraten sei, die das Unternehmen nach § 323 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, a.F.) von der Leistungspflicht befreit habe. Nicht nur der Kläger, nach Ansicht des Gerichts "auch die Beklagte verlor jede Möglichkeit auf die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses einzuwirken."

Anderer Ansicht: Adolf Arndt

In der "Süddeutschen Juristen-Zeitung" erschien das klageabweisende Urteil mit einer sehr kritischen Anmerkung des hessischen Ministerialdirektors Adolf Arndt (1904–1974).

Die Mannheimer Richter hätten mit ihrem Urteil eine "rechtsbegründende Kraft des SS-Befehls" angenommen: "Da eine solche Annahme, will man nicht die Sklaverei als Einrichtung unseres Rechts anerkennen, schlechterdings indiskutabel ist, … so kann die Zahlung der Beklagten an die Emissionsbank [der SS] einzig auf Grund eines tatsächlichen Müssens, eines Weichens vor der Gewalt geschehen sein und ist rechtlich nicht anders zu beurteilen, als wenn Räuber oder Diebe die bereitgestellten Lohntüten aus der Kasse der Beklagten gestohlen hätten. Die Beklagte ist also … nicht gegenüber dem Kläger von ihrer Leistung frei geworden; ihr vorübergehendes Unvermögen zur Zahlung, weil ihr damals der Terror der SS nicht zumutbar war, besteht heute nicht mehr fort, so daß sie dem Kläger Arbeitslohn schuldet, da er unstreitig für sie Arbeit geleistet hat."

Statt schlicht nach dem "niemals aufgehobenen BGB" (Arndt) zu entscheiden, verteile das Gericht "den von der Gewaltmaßnahme der SS verursachten Schaden auf die Masse der als Sklaven behandelten Arbeitnehmer" und suche sein Heil in einer gesetzgeberischen Regulierung derartiger Fälle.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Nachkriegsrecht: "Rez. glaubt nicht, daß damit Recht gesprochen ist" . In: Legal Tribune Online, 23.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23557/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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