In 100 Jahren um die Welt: Zehn Geschichten vom Recht

von Martin Rath

01.01.2020

In Geschichten vom Recht spiegelt sich die Welt. Wir schlagen einen bunten Bogen von der Salzsteuer in Indien über das US-Verfassungsrecht bis hin zum Wahlrecht in Appenzell. Auch mit dabei: der BGH, Betriebsräte und ein Taxi nach Leipzig.

Manche meinen, die 1920-er Jahre seien von heute aus betrachtet besonders interessant, weil in diesem Jahrzehnt Vorgänge zu finden seien, die solchen der Gegenwart ähnelten. 

Das wollen wir aber mal nicht hoffen. Wir haben keinen Weltkrieg hinter uns, das Grundgesetz ist bald so alt wie Kaiserreich, Weimarer Republik und NS-Staat zusammen. Und einen Börsenkrach wie 1929 werden wir hoffentlich nicht erleben müssen.

Dieser rechtshistorische Bilderbogen will lieber auf die eigenartige Nähe einer zufälligen Auswahl von Themen hindeuten: Es liegen nur zehn Jahre zwischen einer der tödlichsten Demonstrationen in der Geschichte Berlins und dem gewitzten Steuerprotest Indiens und wieder nur zehn Jahre zwischen diesem , aus der Armut geborenen Widerstand gegen die britischen Kolonialherren und dem prominentesten Beispiel des Franchise-Rechts, das wir wohl alle mit ein paar Kilo zu viel auf den Hüften assoziieren (natürlich nicht den eigenen).

Zwischen der Trauer ums Reichsgericht und dem Aufbruch in deutsche Kernkraftutopien ist kaum ein zeitlicher Abstand. Die USA litten im Jahr 2000 unter einem archaischen Wahlrechtssystem? Manche Schweizerin wird den Amerikanern einen mitleidigen Blick geschenkt haben.

Zum Jahresbeginn viel Vergnügen mit dieser Rückschau!

1920: Betriebsräte, der erste Schritt in den Bolschewismus? 

Die Frage, ob die Arbeiter und Angestellten künftig selbst über die Werte entscheiden sollten, die sie durch ihre Tätigkeit erzeugten, oder ob es bestenfalls auf eine Mitbestimmung über die Verhältnisse im Betrieb desjenigen herauslaufen sollte, der das Eigentum am hierzu notwendigen geistigen und Sachkapital hielt, brachte die Berliner des Jahres 1920 auf.

Die Frage ist zu kompliziert gestellt, niemand will sie noch einmal lesen? Stimmt, ähnlich müssen die Berliner damals auch gedacht haben. Auf dem Spiel stand das Betriebsrätegesetz, über das die Nationalversammlung beriet. 

Der radikale linke Flügel der Arbeiterbewegung wünschte sich tatsächlich sowjetische oder doch sozialistische Verfügungsgewalt über Betriebe oder Kapital. Das Gesetz selbst, das zwischen 1920 und 1934 galt, sollte allerdings eine eher brave Vorstufe des heutigen betrieblichen Mitbestimmungsrechts formulieren. Einem Teil der Arbeitgeber war selbst das zu viel.

Durch Verfügung vom 14. Januar 1920 hatte Reichswehrminister Gustav Noske (SPD, 1868–1946) für Berlin und Umlandgemeinden ein Verbot öffentlicher Versammlungen verordnet. Wer es unternehme, im Umkreis des Reichstagsgebäudes zu stören, werde "schon im Beginne durch rücksichtslose Waffenanwendung" daran gehindert werden.

Eine Kostprobe auf diese Idee der wehrhaften repräsentativen Demokratie hatte es tags zuvor gegeben. Durch das Wechselspiel aus schlecht organisierter Polizei und schlecht vorbereiteter Demonstration starben vor dem Reichstagsgebäude zwischen 20 und 40 Menschen durch Schusswaffengebrauch.

1930: Steuerprotest, leicht verständlich

Speisesalz ist hierzulande derart lange ein Dorn im Auge der von Rundfunk und Presse zur gesundheitlichen Volksaufklärung bestallten Ernährungsberater gewesen, dass seine lebenswichtige Funktion vielfach aus dem Blick geraten ist. Nicht wenige halten es primär für eine Art Giftstoff.

In landwirtschaftlich geprägten Gesellschaften, vor allem solchen, in denen sich viele arme Menschen fast ausschließlich von Getreide und Gemüse ernähren, erst recht aber auch für ihr pflanzenfressendes Vieh war und ist dieses Salz jedoch eine unverzichtbare Substanz.

Entsprechend trug das Monopol auf Herstellung und Vertrieb von Salz, das die Britische Ostindien-Kompanie, eine britische Public Private Partnership zur Unterwerfung und Ausbeutung des indischen Subkontinents für sich beanspruchte, erheblich zu den Einnahmen dieses Unternehmens bei.

Daran änderte sich nichts, als der britische Staat 1858 die Herrschaftsgewalt von der Kompagnie übernahm. Bis zu zehn Prozent der Einnahmen der britischen Verwaltung Indiens sollen aus dieser sogenannten Salzsteuer resultiert haben. Um das Salzmonopol durchzusetzen, ermächtigte der Gesetzgeber für Britisch-Indien die Polizei- und Steuerbehörde mit schrankenlosen Durchsuchungsrechten.

In seiner Doppelqualifikation als Apostel der damals schon internationalen Vegetarierbewegung und als Rechtsanwalt in Südafrika erklärte Mohandas Gandhi (1869–1948), bekannt als Mahatma, das Salzmonopol bereits in den 1890er Jahren zum Schlüsselthema indischer Emanzipationsbestrebungen gegen die britische Kolonialherrschaft.

1930 kam es zum berühmten Salzmarsch, in dem das Schöpfen von Salz aus dem Meer zur großen Geste des Protests nicht allein gegen die Herrschaft des von Briten gesetzten Steuerrechts in Indien geriet. Deutsche Steuerrechtler wissen: Mit Hinweisen auf die Sektsteuer oder den obskuren Steuerzahlergedenktag erreicht man hierzulande auch viel Aufmerksamkeit. Fehlt nur ein Richard Attenborough, der das verfilmt.

1940: Nicht appetitlich, aber genial

Im Leben aller juristischen Erstsemester kommt der Augenblick, in dem ein Zivilrechtsgelehrter ihnen mit traurigen Augen erklärt, dass etliche der wirtschaftlich wirklich wichtigen Vertragsmodelle im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) gar nicht am Stück geregelt seien.

Neben dem Leasing- wird dann meist der Franchisevertrag als Beispiel für Konstrukte genannt, die sich dem ganz unmittelbaren dogmatischen Zugriff und dem Durchprüfen im Rahmen erster Subsumtionsübungen entziehen. Studenten wissen dann womöglich nicht, ob sie darüber eher beglückt sein oder die später zu beherrschende Komplexität von derlei Verträgen gleich schon einmal fürchten sollen.

Mit der Firma McDonald's wurde am 15. Mai 1940 jener Franchisegeber gegründet, der zum internationalen Probierstein dieses Unternehmens- und Vertragsmodells werden sollte.

Hinter dem "gemischten Vertrag" steht ein ökonomisch geniales Konzept: Dem Endkunden können Schnellrestaurantprodukte verkauft werden, deren Geschmacks- und Nährwerte zwar angreifbar sind, auf deren hygienische Qualität er jedoch vertrauen darf. Weil die Verletzung von wesentlichen Produktstandards zum Ausschluss des Franchisenehmers führen würde, um die Marke zu schützen. Fängt sich der Tourist im idyllischen Lokal am Wallfahrtsort eine Darmerkrankung ein, bleibt das Risiko für den Küchenchef begrenzt. Im Franchise-Betrieb dagegen schreibt er sich die Kündigung, sollte er allzu oft auf dem Weg zwischen Personaltoilette und Herd das Händewaschen vergessen.

Das Prüfungsschema für die Verträge mag kompliziert sein. Das ökonomische Judiz ist es nicht. Entsprechend erfolgreich sind Franchise-Vertragsnetzwerke in der modernen Marktwirtschaft geworden. Die internationale Verbreitung relativ uniformer Produkte erlaubt es, den Big-Mac-Index zum griffigen Kaufkraftvergleich heranzuziehen. Für ein privates Unternehmen ist das eine beachtliche Leistung.

1950: Der BGH nimmt seine Arbeit auf

Es entsprach bekanntlich den Wünschen Konrad Adenauers, dass die Bundesregierung 1949 nicht in Frankfurt am Main, sondern im beschaulichen Bonn angesiedelt wurde. Ihm war der Gedanke unangenehm, es im roten Frankfurt mit dem SPD-geführten Hessen zu tun zu haben.

Im Fall des Bundesgerichtshofs bekam Adenauer seinen Willen nicht. Am 12. Mai 1950 hatte sich zwar das Bundeskabinett mehrheitlich dafür ausgesprochen, den BGH in Köln einzurichten, wo Adenauer zwischen 1917 und 1933 Oberbürgermeister gewesen war und auch der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone bis 1950 seinen Sitz hatte. Der Bundestag votierte aber für Karlsruhe, worüber sich der Bundesjustizminister, Thomas Dehler (1897–1967), aus Gründen eines süddeutschen Regionalpatriotismus sehr freute.

Wie sehr sein erster Präsident, Hermann Weinkauff (1894–1981), der selbst noch als Reichsgerichtsrat gedient hatte, von der Vorstellung geprägt war, der BGH solle in der Tradition des Reichsgerichts arbeiten, illustriert etwa seine Rede bei der Eröffnungsfeier des neuen Gerichtshofs – gemünzt wohl auf die in der DDR kollektiv inhaftierten ehemaligen Kollegen:

"Noch fehlen uns allerdings Brüder, die ihren Platz in unserer Mitte haben sollten. Wir vergessen sie nicht. Wir denken an sie. Niemand wäre glücklicher als wir, wenn sie bald gemeinsam mit uns an dem gemeinsamen deutschen Recht mitarbeiten könnten. […] Die Gesamtleistung des Reichsgerichts war unbestritten bedeutend. […] Ein solcher Vorgänger verpflichtet."

Mit dem Widerspruch gegen diese feierliche Erklärung lassen sich heute ganze Bibliotheken füllen.

1960: Strahlend in die Zukunft 

"Mein Gott, wenn wir Atomstrom kriegen! Dann brauchen die Männer nicht mehr in die Bergwerke einzufahren."

Am 1. Januar 1960 trat das "Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz)" vom 23. Dezember 1959 in Kraft, das in seiner ursprünglichen Form der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition deutscher Technologiegesetzgebung entsprach: Auf die Definition seiner Regelungszwecke, also der Nutzbarmachung einer technologischen Möglichkeit und des Schutzes vor ihren Gefahrenpotenzialen, folgte die Benennung der geregelten Substanzen ("Kernbrennstoffe", "Ausgangsstoffe") und der Regelungsgebiete – Aufbewahrung und Transport, Anlagengenehmigung und Gewerberecht, staatliche Aufsicht und Haftungsbegrenzung – ein durchaus schlankes Gesetz mit 59 Paragraphen.

Während sich im Jahr 1957 Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876–1967) eine Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen als einer Art "Weiterentwicklung der Artillerie" vorstellte, gegen die sich eine wirksame Opposition deutscher Kernphysiker formierte, war die vom Gesetz formulierte "friedliche Nutzung der Kernenergie" nicht nur weitgehender gesellschaftlicher Konsens, sondern auch Anlass schönster Hoffnungen. 

In der SPD erwartete man die Befreiung des Bergmanns aus dem Stollen. Weiter gab es parteiübergreifend nichts, was man durch Atomstrom nicht glaubte bewirken zu können – Schiffe und Lokomotiven würden mit Kernkraft fahren, künstliche Sonnen dabei helfen, das scheußliche Eis der Arktis aufzutauen und die Tundra landwirtschaftlich nutzbar zu machen.

Darüber macht man sich seither gern lustig. Das Atomgesetz schreibt heute vor, "die Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität geordnet zu beenden".

Als in den 1970er Jahren der Protest gegen die Kernenergie zur politischen Massenbewegung heranwuchs, der diese Novelle des Gesetzes letztlich geschuldet ist, beschrieben gerade ihre Kritiker wie der Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) den "Atomstaat" als eine Gesellschaftsordnung, die aus der Natur der Sache niemals wieder aus dem aktiven Umgang mit Kernbrennstoffen würde aussteigen können. Diese Reflexionshöhe hat die Auseinandersetzung heute nicht mehr.

1970: Die RAF im Taxi nach Leipzig

Die Befreiung des wegen Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern zu drei Jahren Zuchthaus verurteilten Terroristen Andreas Baader (1943–1977) am 14. Mai 1970 gilt als Gründungsdatum der Rote Armee Fraktion (RAF). Begünstigt wurde sie durch die liberale Haltung des Berliner Strafvollzugs, die Baader einen von Justizbeamten begleiteten Bibliotheksbesuch zur vorgeblichen Arbeit an einem Buch erlaubt hatte.

Was an Reaktionen auf die Verbrechen der RAF folgte, beendete alle Aussichten auf eine biedere altliberale Bundesrepublik auf lange Sicht. In Bern und Zürich mögen Spitzenpolitiker und Bankmanager noch heute in der Straßenbahn fahren, im Bonn der 1970er Jahre mussten es bereits gepanzerte Fahrzeuge sein.

Ein als wehrhaft gedachter Rechtsstaat bescherte der deutschen Gesellschaft solch fragwürdige Institute wie ein ausgedehntes Werbeverbot für terroristische Vereinigungen, der jedem Schülerzeitungsredakteur den Besuch von Staatsschutz-Polizisten eintragen könne, sollte er einen "RAF-Stern" auch nur in dokumentarischer Absicht publiziert haben – so jedenfalls die feste Überzeugung an vielen Gymnasien der 1980er Jahre. Heinrich Böll erhielt einen Vorgeschmack auf eine widerliche Diskussionskultur, für die spätere Generationen Twitter erfinden mussten, und mit der Kontaktsperre-Gesetzgebung bezeugte die Republik ein dürftiges Selbstbewusstsein.

Was der Republik über linksextremem Terror und dem apologetischen Geschwätz unter den Schülern und Studenten an altliberalem Biedermeier verloren ging, holte sie aber auf dem Gebiet der populären Darstellung von Kriminalität nach: Im November 1970 ging mit "Taxi nach Leipzig" die erste Folge des "Tatorts" über die ARD-Sender. Bis heute behindert die Serie jeden juristisch und sozialwissenschaftlich aufgeklärten Ansatz, ein aufgeklärtes Verständnis von abweichendem Verhalten unters Volk zu bringen, indem sie den festen Glauben reproduziert, sie leiste das bereits.

1980: "Gescheitert" statt "zerrüttet"

Nach einer weit verbreiteten Auffassung blieben bis ins Jahr 1997 die Vergewaltigung bzw. sexuelle Nötigung in der Ehe straflos. Bekanntlich strich der Gesetzgeber seinerzeit das Merkmal "außerehelich" aus den einschlägigen Straftatbeständen. Ob diese Reform entscheidend dazu beigetragen hat, die Illusion einer rechtsfreien Privatsphäre zu beseitigen, lässt sich differenziert diskutieren.

Bemerkenswert gering wird hingegen der vernünftigerweise rechtshistorisch entscheidende Schritt zur Auflösung von gewaltförmigen Intimbeziehungen geschätzt: die Einführung des Zerrüttungsprinzips im deutschen Ehescheidungsrecht und seine Billigung durch das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 28. Februar 1980 (Az. 1 BvL 136/78 u.a.).

Bis zum Inkrafttreten des neuen Ehescheidungsrechts am 1. Juli 1977 war eine Scheidung nur nach Ehebruch oder einer ähnlichen Verfehlung sowie nach einer Zerrüttung möglich gewesen, die jedoch a) schuldhaft verursacht und b) die Aussichten zerstört haben musste, dass die grundsätzlich zwingend lebenslange Ehe fortgesetzt werden könnte.

Seit dem 1. Juli 1977 genügte es, wenn die Ehe "gescheitert" war, wenn sich also die Lebensgemeinschaft aufgelöst hatte und ihre Wiederherstellung nicht mehr zu erwarten war.

Dass das Bundesverfassungsgericht dies 1980 billigen würde, galt zeitgenössischen Beobachtern nicht als selbstverständlich. 1978 hatten die Richter beispielsweise die Regelung einer Kriegsdienstverweigerung kraft einfacher Erklärung – im sogenannten Postkartenverfahren – für nichtig erklärt, weil das Grundgesetz keine schlichte Wahlmöglichkeit zwischen den Dienstarten vorsehe. Man traute ihnen zu, dass sie auch die Heiligkeit der in Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz "einem besonderen Schutze" des Staates anempfohlenen Ehe durch eine allzu einfache Scheidungsoption verletzt sehen.

Die Verfassungsrichter befanden jedoch, dass die Ablösung des alten Schuld- durch das neue Zerrüttungsprinzip dem Gedanken der grundsätzlich auf Lebenszeit geschlossenen Ehe hinreichend Rechnung trage. Angesichts der nachhaltigen Verlogenheit, mit der zuvor Scheidungsgründe nach altem Recht erfunden worden waren, hätte sich das Gericht mit einer anderen Entscheidung wohl auch vollends unmöglich gemacht.

Dass das Zerrüttungsprinzip aber, wenn es um die Verhinderung von Gewalt in der Ehe geht, nicht wenigstens ebenso häufig genannt wird wie die 20 Jahre später erfolgte Änderung des Vergewaltigungsstrafrechts, ist eigenartig. Höhere Rechtssoziologie ist das ja nun nicht.

1990: Direkte Demokratie in der Schweiz, jetzt auch für Frauen

An jedem letzten Sonntag im April dürfen sich die Einwohner des Schweizer Kantons Appenzell Innerrhoden – Gesamtbevölkerung heute rund 16.000 Menschen – an der unmittelbaren Gesetzgebung und Verwaltung durch das Volk beteiligen.

Während die bevölkerungsreicheren Kantone der Schweiz ihre Gesetzgebung und Verwaltung durch Volksvertreter organisieren, wenngleich – ähnlich wie in den Staaten und Gemeinden der USA – ergänzt um eine ausgeprägte direkte Gesetzgebung mittels Volksabstimmung, pflegt Appenzell Innerrhoden ein Ritual direkter Gesetzgebung durch das Volk selbst – bis 1991 aber ohne Beteiligung der Appenzellerinnen.

Auf der Ebene der Eidgenossenschaft war das Frauenwahlrecht, im europäischen Vergleich recht spät, erst 1971 durch Volksabstimmung (der Männer) eingeführt worden. In Frankreich war dies 1944 erfolgt, in Deutschland 1918. Eine fleckenfreie Geschichte des Fortschritts erlebte das Frauenstimmrecht übrigens nicht. Für die erste US-Senatorin Rebecca Ann Latimer Felton (1835–1930) galt es beispielsweise als Mittel, die Stimmkraft afroamerikanischer Männer durch jene 'weißer' Frauen in die Schranken zu weisen.

Als aber das Bundesgericht der Schweiz mit Urteil vom 27. November 1990 befand, dass mit Blick auf die Verfassung des Kantons wie die der Eidgenossenschaft auch den Frauen "die politischen Rechte im Kanton Appenzell I.Rh." zustanden, beendete es nach wohl einhelliger Auffassung aller zivilisierten Nationen einen archaischen Rechtszustand – selbst wenn die Appenzeller bis heute gegenüber den Appenzellerinnen den Vorzug genießen, sich nicht nur mit einem schnöden Stimmrechtsausweis, sondern auch mit einem schmucken Stimmsäbel als wahlberechtigt ausweisen zu dürfen.

2000: Zu dumm, um Wahlen zu organisieren?

Die Wahl von George W. Bush (1946–) zum 43. Präsidenten der USA und von Dick Cheney (1941–) zum Vizepräsidenten wurde im Jahr 2000 letztlich vor Gericht entschieden.

Für den Kandidaten der Demokratischen Partei, den bisherigen Vizepräsidenten Albert Gore (1948–), wurden landesweit fast exakt 51 Millionen Stimmen abgegeben, für George W. Bush stimmten nur 50,5 Millionen Wählerinnen und Wähler.

Bekanntlich wird der US-Präsident aber nicht direkt vom Volk, sondern von den Wahlmännern des Electoral College gewählt. Hier stellt jeder Bundesstaat so viele Wahlmänner wie er Vertreter ins Repräsentantenhaus und den Senat der USA entsendet. Weil die Sitze des Repräsentantenhauses zwar nach Bevölkerungszahl auf die Staaten verteilt sind, jedoch jeder Staat mindestens einen Sitz hält und zudem zwei Sitze im Senat, sind allein sieben bevölkerungsschwache Staaten mit jeweils drei Wahlmännerstimmen (entsprechend ihren zwei Senatoren und einem Repräsentanten) ausgestattet.

Diese Übergewichtung der bevölkerungsschwachen Staaten ist also von Verfassungs wegen vorgesehen. Man mag dies allein für undemokratisch halten. Viel problematischer ist es aber, dass sich die Wahlmänner regelmäßig gezwungen sehen, den Präsidentschaftskandidaten zu wählen, für den sie angetreten sind, selbst wenn es eine vom Standpunkt der Ehre satisfaktionsunfähige Figur ist. Dies ist im Grunde eine Travestie des Repräsentationsprinzips, die die US-Verfassungsväter – Pistolenduelle ausführende Perückenträger – vermutlich kaum im Blick hatten.

Mit dem Problem aber, dass einerseits auf Bundesebene viele Stimmen systematisch unter den Tisch fallen dürfen, im Einzelstaat aber knappe Ergebnisse unter den Augen der gesamtstaatlichen Öffentlichkeit kippen könnten, bekam man es erst in jüngerer Vergangenheit gehäuft zu tun. Im Jahr 2000 lagen in Florida, das mit 25 Wahlmännerstimmen den Ausschlag zwischen den Kandidaten gab, die Differenz der Wählerstimmen unter Umständen nur bei 500.

Die Entscheidungen des U.S. Supreme Court, des Obersten Gerichtshofs von Florida sowie der für die formale Legitimation der Auszählung zuständigen Beamtin Floridas sind komplex. Letztlich gab der U.S. Supreme Court einem formal abgeschlossenen, materiell aber möglicherweise falschen Wahlergebnis seinen Segen. Ein Ausschluss der Wahlmännerstimmen Floridas insgesamt – als Sanktion für ein zweifelhaftes Verfahren in der Auszählung – wurde nicht betrieben.

Um derartige Verstrickungen zu verhindern, wird neben der weitgehend aussichtslosen Abschaffung des Electoral Colleges eine Regelung erwogen, nach der sich die Bundesstaaten verpflichten, ihre Wahlmänner anzuweisen, den Kandidaten zum Präsidenten zu wählen, der landesweit die meisten Stimmen erhalten hat, selbst wenn er diese im eigenen Staat verfehlte.

2010: Die Mutter aller Online-Empörungswellen

Es ist eine interessante Übung, beispielsweise seine spät im Leben mit Smartphone ausgestattete Verwandtschaft auf die Fähigkeit zu prüfen, intellektuell redlich mit dem Problem der kognitiven Dissonanz umzugehen: Nicht wenige, die heute bei der Planung ihrer Urlaubsreise ganz selbstverständlich auf die Dienste von Google Street View zurückgreifen, sich womöglich sogar darüber beklagen, dass es für die wenigsten deutschen Städte – und dort nur mit erheblichen Verpixelungen – verfügbar ist, waren vor zehn Jahren dabei, sich durch Panoramabilder von den Straßen und Plätzen ihrer Heimatortschaft auf das Übelste in ihren Rechten verletzt zu sehen.

Wem entfallen ist, dass er 2010 in den Kamerafahrzeugen des amerikanischen Konzerns Teufelswerk erkannte, wird in zahllosen juristischen Erwägungen dieses Jahres fündig, die sie zwar nicht verfluchten, aber doch auf Rechtsprobleme hin prüften, als seien sie eine schlimme Bedrohung deutscher Nestwärme.

In Erwägung gezogen wurde beispielsweise, ob es sich um eine Sondernutzung oder doch noch um einen Gemeingebrauch des Straßenraums handele. Der Bundesrat stimmte einem Gesetzentwurf zu, der als "Lex Google" die Online-Öffentlichkeit des bildlich erfassten und geografisch zuzuordnenden Straßenraummodells von der Zustimmung der Eigentümer, Mieter oder sonstiger Betroffener abhängig machen wollte

Gegen die von dem Unternehmen selbst etablierte Widerspruchslösung, die aus dem veröffentlichten Bildmaterial deutscher Städte recht effektiv den heutigen Pixelbrei zubereiten sollte, machte sich der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU, 1956–) stark, unter anderem weil die von Google vorgesehene Frist bis zur beabsichtigten Freigabe der Bilder in die Urlaubszeit zu vieler Bayern fiele und bei ihm datenschutzrechtliche Bedenken auslöse.

Neun Jahre später findet sich beispielsweise im Urteil des Kammergerichts Berlin vom 31. Januar 2019 (Az. 22 U 211/16) der Hinweis darauf, dass durch Google Street View das Fehlen einer Radfahrerampel mit belegt werden könne (merkwürdig: entweder die Kameras sind dort noch einmal herumgekommen oder man ist in Berlin gemächlich beim Ampelbau) was, sagen wir, doch dafür spricht, dass die Panoramabilder unbeschwert in der Alltagskultur hätten ankommen können, wäre 2010 etwas weniger Zirkus darum gemacht worden.

Zitiervorschlag

In 100 Jahren um die Welt: Zehn Geschichten vom Recht . In: Legal Tribune Online, 01.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39453/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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