Rechtsgeschichten: Drakonisches zum "Vierkantschlüssel"

von Martin Rath

08.09.2013

Sind Wasser und Elektrizität geeignete Tatobjekte eines Diebstahls? Und wird ein besonders schwerer Fall daraus, nur weil man sie mittels eines Vierkantschlüssels abzapft? Das sind keine Fragen aus einer Erstsemesterklausur, sondern historische Rechtsprobleme, die Martin Rath bei seinem Ausflug ins frühe 20. Jahrhundert ebenso streift wie die Komik Loriots und den Arbeitszwang im Zuchthaus.

Dogmatische Rechtsfragen können im akademischen Diskurs Anlass zu viel geistigem Wettstreit liefern – in der Welt außerhalb des Elfenbeinturms hingegen sind ihre Auswirkungen ausgesprochen real und spürbar. Ein Prozess, der dies illustriert, endete mit Urteil des Reichsgerichts (v. 26.09.1913, Az. II 265/13).

Angeklagt vor dem Landgericht Berlin III, zuständig für das damals noch nicht so großherzig eingemeindete Umland der preußischen Metropole, war der Sohn eines Hausbesitzers. Zunächst unter Beihilfe eines Klempners, später dann auf eigene Faust hatte er, nachdem die Stadt den Bewohnern des Hauses die Wasserversorgung durch Ausbau des Zählers gekappt hatte, das fehlende Rohrstück überbrückt. Daraufhin konnten die Hausbewohner, zu denen der Rohr-Manipulator selbst offenbar nicht gehörte, wieder auf das kommunale Wasser zugreifen.

Der Absperrhahn, mit dem das städtische Rohr im Keller des Hauses endete, trug laut Urteil des Reichsgerichts "nach außen hin eine vierkantige Erhöhung, auf die ein 'Vierkantschlüssel' paßt. Dieser 'zur Verstellung des Ventils erforderliche' Schlüssel befand sich im Besitze des Wasserwerks".

Zuchthaus wegen Vierkantschlüssels?

Der Angeklagte wurde daher verurteilt, "eine schloßähnliche Vorrichtung – den Abstellhahn der Stadt – mittels eines Schlüssels oder ähnlichen Werkzeugs" geöffnet zu haben, was aus dem einfachen Diebstahl nach § 242 Strafgesetzbuch (StGB) einen besonders schweren nach § 243 Nr. 3 StGB machte.

Das hing an der richterlichen Würdigung des Vierkantschlüssels, denn laut Reichsgericht setzt § 243 Nr. 3 StGB voraus, dass "zur ordnungsgemäßen Eröffnung gerade dieser Schließvorrichtung ein Schlüssel oder sonstiges Werkzeug bestimmt sei". Nach den Feststellungen des Landgerichts passte wegen der Besonderheiten der "vierkantigen Erhöhung" am Wasserrohr nur "der ihren Abmessungen entsprechende Vierkantschlüssel des Wasserwerks".

Weil nun – den Bemerkungen der Reichsgerichtsräte merkt man an, dass der Do-it-yourself-Baumarkt noch nicht erfunden war – hier angeblich nur ein ganz spezieller, nicht aber ein universeller Vierkantschlüssel griff, hatte der Angeklagte mit einem "falschen Schlüssel" geschraubt.

Auch wenn die Höhe der Haftstrafe für diesen Wasserdiebstahl in der halbamtlichen Sammlung des Reichsgerichts (RGSt Band 47, 324-326) nicht überliefert ist, konnte der Unterschied zwischen dem einfachen und dem qualifizierten Diebstahl, der hier am Vierkantschlüssel hing, dramatische Konsequenzen haben.

Noch heute sehen die beiden Paragraphen des StGB stark unterschiedliche Strafrahmen vor – bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe beim einfachen, bis zu zehn beim qualifizierten Diebstahl. 1913 stand auf einfachen Diebstahl "Gefängniß", also die Haftanstalt für Bürger. Schwerer Diebstahl zog hingegen Zuchthaus nach sich. Und das Zuchthaus entehrte – durch Arbeitszwang und die körperliche Züchtigung im Rahmen der Anstaltsordnung.

Von Feuerwerkskörpern und flutenden Wellen

Wenigstens war man sich bei der rechtlichen Wertung von Leitungswasser schon sicherer als bei der von Vierkantschlüsseln. Menschen ohne juristische Hirnwindungen könnten sich möglicherweise heute noch fragen, ob flüssige oder gasförmige Gegenstände – ohne Verpackung – Objekt eines Diebstahls sein können.

In einer Dissertation des ostpreußischen Rittergutserben Walther von Hippel finden sich 1895 noch allerlei dogmatische Spekulationen zur Frage: "Ist Diebstahl an fliessendem Wasser möglich?" Entfernt klingt hier die Komik eines anderen preußischen Adeligen an. Victor von Bülow, gen. Loriot (1923-2011): Neuer Gewahrsam an einem Feuerwerkskörper – von Hippel wählt ihn als Beispiel für einen besonders flüchtigen Gegenstand – wird vom Dieb schon durch das Anzünden der Schnur begründet, ohne ihn wegzunehmen.

Seine Distinktionen beim flüssigen Nass, vom Heilwasser bis zum Wasser aus der Röhre, leitet von Hippel mit hehrem Pathos ein: "Erst durch das Einfangen und Beherrschen nimmt man der flutenden Welle ihre eigenartige Natur und läßt sie dem gewöhnlichen Privateigentum unterworfen scheinen."

Recht im Fluss

Ohnehin waren die von Hippels ein eigenwilliger Stamm: ein feministischer Polizeipräsident findet sich unter ihnen genauso wie ein rheinländischer Professor mit Verbindungen zur Esoterik. Beim Leitungswasser – wie im Fall des Landgerichts Berlin III – war die Sache zwar auch für Walther von Hippel fast selbstverständlich, doch seine Ausführungen zur dogmatischen Stellung der Schleusentore bei offenem Kanalwasser gehören allemal zum weiten Feld (unfreiwilliger) juristischer Komik. Bei Wasser im Wasserwerksrohr oder in der Flasche ist der Fall hingegen klar.

Wasserdiebstahl scheint zwar auch in der Gegenwart noch weit verbreitet zu sein – die Wasserwerke bemerken immer wieder Riesenmengen nicht abgerechneter Verbräuche. Wer heute beim Spaziergang durch die ärmeren Quartiere einer deutschen Großstadt die Augen offen hat, dem fallen aber eher die Stromkabel auf, die dort nicht selten von einem Fenster zum anderen baumeln.

Dass der fließende elektrische Strom kein körperliches "Fluidum" ist, das Gegenstand eines Diebstahls sein kann, sondern eine neuartige "Kraft", stellte das Reichsgericht am 20. Oktober 1896 fest. Wenn heutige Kabel-Baumelanten nicht straflos davonkommen, haben sie das dem Gesetzgeber zu verdanken: Mit Gesetz vom 9./23. April 1900 wurde die unberechtigte "Entziehung elektrischer Arbeit" unter Strafe gestellt.

Nur dreieinhalb Jahre brauchte der Gesetzgeber damals, um ein neues technisch-wirtschaftliches Rechtsproblem zu regeln. So schnell arbeitet der Bundestag im WLAN-Zeitalter leider längst nicht mehr.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten: Drakonisches zum "Vierkantschlüssel" . In: Legal Tribune Online, 08.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9514/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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