Die Wissenschaft im Recht: Evidenz ist kein Hexenwerk

von Martin Rath

01.02.2015

Im Bereich medizinischer Dienstleistungen verspricht "evidenzbasierte Medizin" eine um wissenschaftliche Erkenntnis angereicherte Heilkunst ohne esoterisches Chichi. Mit einer Dissertation kam 2014 das Programm einer "Evidenzbasierten Jurisprudenz" auf den rechtswissenschaftlichen Buchmarkt. Welche (un)magischen Denksportaufgaben damit verbunden sind, zeigt Martin Rath.

Ein Konzern-Syndikus führt die Vorstandsmitglieder bei Mitternacht auf einen einsamen Acker, um die Ankunft eines scientologischen Raumschiffs abzuwarten, von dessen Besatzung man sich Aufschluss über neue Unternehmensstrategien verspricht. Ein aufs Scheidungsrecht spezialisierter Rechtsanwalt rät seinen männlichen Mandanten die Anwendung aztekischer Liebeszauber an, weil man den prozessgegnerischen Biestern anders nicht beikomme. Natürlich darf auch der mit finsteren Klienten gesegnete Strafverteidiger nicht fehlen, der stets ein paar Staatsanwaltspüppchen in der Schublade hat, um sie von Zeit zu Zeit mit Voodoo-Nadeln zu piesacken – von den Mandantenpuppen aller anderen Anwälte nicht zu sprechen.

Teile der Ärzteschaft und wohl die Mehrzahl der Heilpraktiker wenden heute eine Vielzahl an esoterischen Genesungsmittelchen an – von fragwürdigen "Familienaufstellungen" bis zu homöopathischen Zuckerkügelchen, die kosmisch verstrahlte Zahnärztinnen zur Schmerzbehandlung verabreichen. Auf das vielleicht etwas alberne Gedankenspiel, was geschehen könnte, wollten sich Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ähnlicher Marketingmittel bedienen, führte die 2014 veröffentlichte Dissertation "Evidenzbasierte Jurisprudenz" von Hanjo Hamann.

Jura ist (noch) recht frei von Esoterik

Glücklicherweise ist es nicht annähernd so schlimm um die Juristerei bestellt, dass sich eine rechtswissenschaftliche Doktorarbeit das Ziel setzen müsste, mit Hirngespinsten jener Art aufzuräumen, um die viele Medizindienstleister im Geschäft mit ihrer karmisch entrückten Großstadtkundschaft nicht mehr herumzukommen glauben. Das Wort von einer "evidenzbasierten Medizin" dient in der handlungsorientieren Heilkunst nicht zuletzt dazu, das ärztliche Interesse an einer naturwissenschaftlich fundierten Praxis zu unterstreichen. Solche Abgrenzungsbemühungen einer "evidenzbasierten Jurisprudenz" bedarf es (noch) nicht.

"Evidenzbasierte Jurisprudenz" ist bei Hamann daher weniger streitbar gestaltet: Er beginnt mit einer Darstellung, welche empirischen Bemühungen der rechtswissenschaftlichen Arbeit selbst dann zugrunde liegen, wenn vorderhand nur dogmatische Gutachtentechnik bewerkstelligt wird. Die beispielsweise bestenfalls mit dem Griff zum Duden verifizierte Feststellung eines "gewöhnlichen Sprachgebrauchs", mit der dem strafrechtlichen Bestimmtheitserfordernis Genüge getan werden soll, zählt zu einer solchen oberflächlichen Empirie-Arbeit.

Juristen begründen viel mit anekdotischen Evidenzen, vom Gesetzgeber bis hin zu den wertenden Anteilen richterlicher Entscheidungen. Ein kurzes Beispiel: Bis 2005 hatten Aktionäre anlässlich der Hauptversammlung Aktien zu hinterlegen, § 123 Aktiengesetz alter Fassung. Weil das "erfahrungsgemäß" so nicht praktiziert wurde, schaffte man das Prozedere ab. Eine Prüfung dieser Annahme mittels sozialwissenschaftlicher Methoden fand nicht statt, obwohl der Gesetzgeber, anders als die Gerichte, nicht unter Zeitdruck stand.

Spekulation oder empirische Untersuchung?

Juristen kommen als Produzenten, hier oft mit anekdotischer Evidenz, und als Rezipienten gutachterlicher Äußerungen sowie als Spekulanten mit Empirie in Berührung. Die Spekulation darf als produktiv gelten, wenn sie beispielsweise ein lebensmittelrechtliches Verbot vom naturwissenschaftlichen Nachweis eines gewissen Gefährdungspotenzials abhängig macht. Der Gesetzgeber fördert hier letztlich den Wissensfortschritt: Er nimmt an, dass es die Gefahr geben könnte. Die zuständigen Behörden und Gerichte verlassen sich später auf forsche und forschende Lebensmittelchemiker, welche die juristische Arena betreten und entscheiden, ob die Gefahr denn wirklich real ist.

Hamann selbst führt elaboriertere empirische Methoden zur Erzeugung juristischer Evidenz am Beispiel des gesellschaftsrechtlichen Kollegialprinzips vor: Wie halten es andere Rechtsordnungen westlicher Länder mit der Mitgliedschaft und dem Entscheidungsprozess in leitenden Unternehmensorganen? Was verspricht man sich von Kollegialordnungen? Wird zwischen dem sprichwörtlichen "vier Augen sehen mehr als zwei" und dem "viele Köche verderben den Brei" eine optimale Gestaltung gefunden?

Evidenzbasierte Auskünfte zur Leistungsfähigkeit von Kollegialentscheidungen finden sich unter anderem aus der experimentellen Mikroökonomik, der Sozial- und Organisationspsychologie.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Die Wissenschaft im Recht: Evidenz ist kein Hexenwerk . In: Legal Tribune Online, 01.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14531/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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