Juristen und Mathematik: Okkulte Rechnerei

von Martin Rath

17.03.2012

Das Datum erinnert jedes Jahr an die so genannte Kreiszahl "pi" gleich "3,14159...". Wenn Juristen am 14. März, dem "Pi-Tag" nicht glaubten, mitfeiern zu sollen, täuschten sie sich. Gerade weil sie so viel mit Rechnungssoftware oder Unterhaltsrechnungen zu tun haben, vergessen Juristen vielleicht die okkulten Seiten ihres Fachs. Ein unkalkulierter Essay von Martin Rath.

Dass am Anfang einer wirkungsmächtigen mathematischen Disziplin ein juristisches Bedürfnis gestanden haben soll, überrascht. Aber vielleicht erinnern sich ja die deutschen Steuerrechtler gerne daran, wenn wieder einmal über die Qualitäten ihrer Kunst geschimpft wird.

Nach einer Anekdote, die der französische Wissenschaftsphilosoph Michel Serres beim antiken griechischen Historiker Herodot fand, soll die Geometrie von jenen altägyptischen Landvermessern erfunden worden sein, die nach jeder Überschwemmung des Nils die Felder an den Flussufern neu vermaßen, um die Steuern festzusetzen. Am Anfang der Geometrie war das Steuerrecht.

Die okkulte Dunkelheit des alten Ägypten durchzog die juristische Wirkungsgeschichte der Geometrie durch die Jahrhunderte, obwohl doch ein Blick ins Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) genügt, um ein bisschen Licht auf das Verhältnis von Recht und Mathematik zu werfen.

"Vor-die-Klammer-ziehen" – Zwerge auf den Schultern von Riesen

Dass die Schöpfer des BGB die Technik angewendet haben, die jeweils allgemeinsten Normen "vor die Klammer zu ziehen" und die spezielleren Regelungen "in Klammern" dahinter zu setzen, ist eine Phrase, die jedem Jurastudenten vom ersten Semester an geläufig ist.

Im ersten Buch des BGB finden sich bekanntlich Regeln, die für alle übrigen vier Bücher gelten, zum Beispiel wird die Frage geklärt, wie eine Willenserklärung funktioniert. Das gilt dann grundsätzlich für alle weiteren Normen, in denen Willenserklärungen eine Rolle spielen. Im Schuldrecht werden die speziellen Regeln noch einmal vor eine Klammer gezogen. Wie der Schadensersatz "funktioniert" steht vor den, wann er zu leisten ist, aus Vertrag oder aufgrund gesetzlicher Vorschrift, steht in den Klammern.

Wenig bekannt ist, wie sehr die Schöpfer des BGB mit dieser "mathematischen" Vorgehensweise Gott spielten. Der Münsterer Zivilrechtsprofessor Bernhard Großfeld schlägt in seinem Buch vom "Zauber des Rechts" den ganz großen Bogen, wenn er erzählt, wie geometrische Formen ins Recht kamen: Mittelalterliche Philosophen wie Abaelard (1079-1142) oder Bernhard von Clairvaux (1091-1153) übernahmen vom antiken Denker Platon und vom esoterischen Mathematiker Pythagoras den Gedanken, dass "die ganze Welt auf Zahlen und Geometrie gestützt sei“. Geordnet wird die Welt vom "Deus Geometra", Großfeld notiert: "Gott erschafft die Welt mit einem Zirkel aus dem Chaos. Das übertrug sich – ebenfalls biblisch gestützt – auf das Recht."

Auch juristische Darstellungen werden "geometrisch"

Zu den ersten großen Werken der abendländischen Geschichte, die in "geometrischer Art" niedergeschrieben wurden, zählt die "Ethik" des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632-1677). Sie beginnt mit einer gleichsam axiomatischen Definition des Begriffs "Gott". Mathematisierende Ableitungen folgen. Neben der klassischen Einteilung juristischer Materien in "Bücher" wird in dieser Zeit der "mos geometricus", das Anordnen von Gedanken oder Normen in mehr oder weniger geometrischer Form, modisch. Gottfried Wilhelm Leibniz  (1646-1716), ein genialer Universalgelehrter, der selbstverständlich auch zwei juristische Doktorate erworben hatte, schlug – wie es in einem putzigen "Spiegel"-Artikel aus dem Jahr 1967 heißt - "die von ihm begründete mathematisch-logische Methode den Juristen als Werkzeug für die Rechtsfindung [...] und eine Justizreform 'more geometrico'" vor.

Die Darstellungen juristischer Gegenstände folgten seither dem philosophischen Forderungskatalog. Ein übersichtliches Beispiel, das zudem heute leichter zugänglich ist als etwa die mehrbändigen Lehrbücher des Pandektenrechts von Bernhard Windscheid (1817-1892), gibt das "Lehrbuch der Philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts". Geschrieben hat es der heute völlig vergessene Erlanger Professor Karl Heinrich von Gros (1765-1840) nach "geometrischer Methode".

Es ist in einem zwar nicht sehr schönen, aber preiswerten Nachdruck der Auflage von 1822 verfügbar und zeigt, in welchen Bahnen die Juristen dachten, bevor das etwas anders "geometrische" BGB erschaffen wurde: Am Anfang des übersichtlichen Lehrbuchs werden Begriffe wie "Kraft", "Recht" oder "Wille" axiomatisch eingeführt. In den "besonderen Teilen" entfalten sie sich dann folgerichtig in den Rechtsmaterien, vom Zivilrecht über das Kirchenrecht bis zu einer Kurzfassung des Völkerrechts.

Keine Komplexitätsreduktion durch das BVerfG

Wie das BGB seine ursprünglich "axiomatische" Form verlor, in jüngerer Zeit etwa durch die sprachlich und dogmatisch nicht sehr gut hineinpassende Schuldrechtsreform von 2002, lässt sich gut an der BGB-Synopse des Mannheimer Rechtsanwalts Thomas Fuchs nachvollziehen. Den Kraftakt, Normen in einer möglichst widerspruchsfreien Weise zu interpretieren, müssen Juristen heute auch ohne "geometrisch" geformte Gesetzbücher leisten.

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), nach denen ein "Grundsatz der Widerspruchsfreiheit" aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten sei, haben – soweit man hört und sieht – jedenfalls den Gesetzgeber nicht auf den Plan gerufen, seine Arbeit wieder nach strikt formalen Mustern des alten Euklid zu ordnen. Das BVerfG musste sogar starke Kritik für seine Idee von der Widerspruchsfreiheit (z.B. im Urt. v. 07.05.1998, Az. 2 BvR 1876/91) einstecken. Der Zivilrechtler und Rechtshistoriker Heinrich Honsell reklamierte etwa , dass das Nichtwiderspruchsprinzip "ein Axiom der Logik und als solches ein vorpositives Prinzip [ist], das seine Geltung nicht erst aus der Verfassung" erhalte.

Wer auf mehr Übersichtlichkeit im Recht wartet, darf also nicht auf eine mathematische, geometrische oder logische Ordnung der Gesetze hoffen, zumal Bernhard Großfeld ganz ohne Bedauern festhält: "Der mos geometricus verdämmert bei uns jetzt langsam und unter Schmerzen."

Automaten im Richtertalar

Vielleicht hilft ja noch der Computer. Im erwähnten "Spiegel"-Artikel von 1967, der so rührend die Justizreformideen des Großphilosophen Leibniz "more geometrico" erklärte,  wurde auch der Strafrechtler Ulrich Klug (1913-1993) auf überaus putzige Art zum 'verrückten Professor' gemacht: "Bei Mord entscheidet der Richter in der Strafzumessung schon heute wie ein Computer", hatte der damals in Köln lehrende Professor geäußert, was den anonymen "Spiegel"-Berichterstatter zu atemlos zur "wissenschaftliche(n), gleichwohl schaurige(n) Vision eines Automaten im Richtertalar" verleitete.  Von Computern, "die nach mathematisch-logischen Prinzipien geschaltet sind", versprach sich der "Spiegel" 1967 u.a. „Routinefälle auf einfachste Weise in Sekundenbruchteilen zu erledigen" und "mehrdeutig formulierte oder sich widersprechende Gesetze sofort zu eliminieren".

Was die Vertreter einer Utopie von der mathematisch-logischen Jurisprudenz im Jahr 1967 noch nicht auf der Rechnung hatten, waren die Abgründe der Textverarbeitung. Die geschriebenen Textmengen haben seither wohl noch jeden Rationalisierungserfolg wieder zunichte gemacht.

Kein Chichi mit dem "Chi"-Test

So tritt die Mathematik immer wieder auch als Provokation ans Recht heran. Das Finanzgericht (FG) Rheinland-Pfalz kassierte beispielsweise unlängst den Versuch der Finanzbehörde, mit dem sogenannten "Chi"-Test eine erhöhte Einkommensschätzung zu rechtfertigen (Urt. v. 24.08.2011, Az. 2 K 1277/10). Diese statistische Methode kann aus größeren Datenmengen nicht-zufällige Verteilungsmuster, wie sie zum Beispiel bei manipulierten Rechnungsbeträgen vorkommen, herausfiltern.

Den "Chi"-Test bei einem Friseurgeschäft anzuwenden, das seine Haarschnitte und Dauerwellen naturgemäß mit "nicht-zufälligen" Beträgen abrechnet, fanden die Finanzrichter in Neustadt aber nicht so klug. Ob das FG Rheinland-Pfalz mit dem freundlichen Urteil jedoch verhindert, dass der gemeine Steuerpflichtige in Zweifel gerät, ob heutige Finanzbeamte und Steuerrechtsexperten samt ihrer dunklen Mathematik einen zivilisatorischen Fortschritt darstellen – seit damals die ägyptischen Bauern am Nil kujoniert wurden, wenn der Geometer kam, ihre Steuerpflicht auszumessen?

Am Nil, da sonnten sich einst heilige Krokodile am Strand. Dem Steuerzahler blieb damit die Hoffnung, dass das Steuerrecht nicht nur die Pharaonen satt macht.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Juristen und Mathematik: Okkulte Rechnerei . In: Legal Tribune Online, 17.03.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5802/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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