Kriminalität und Wissenschaft: Der Sohn des Ermittlungspapstes

von Martin Rath

25.03.2012

Der Prozess gegen den Jurastudenten Dippold, der 1903 angeklagt war, als Hauslehrer einen seiner Schüler zu Tode "gezüchtigt" zu haben, fand jüngst seinen Weg auf die Seiten der "NJW" (11/2012). In Christian Krachts neuem Roman "Imperium" tritt die Anarchistenszene des Deutschen Reichs in Erscheinung. In der damals jungen Kriminalwissenschaft finden sich Skandale mit Familienähnlichkeit.

Die Hauptrolle in Christian Krachts Roman "Imperium" spielt der radikale Vegetarier August Engelhardt (1875-1919), der ab 1902 in der Südsee seine auf den Verzehr von Kokosnüssen gegründete Weltanschauung verwirklichen wollte. Was der Exzentriker in der deutschen Kolonie Neuguinea umsetzte, hatte Vorbilder – manch ein Forscher, der in britischem oder französischem Auftrag Afrika erkundete, zeigte wahnhafte Züge oder grotesken Drogenkonsum. Die Wissenschaftsgeschichte der Ethnologie nimmt sich heute ihrer frühen Reisenden an.

Anarchistische Umtriebe im deutschen Kaiserreich und in der k.u.k. Monarchie von Österreich-Ungarn, die Entwicklung der modernen Kriminalpolizei aus dem Umfeld "verrückter Wissenschaft" und das Drama in der Familie eines führenden Strafrechtswissenschaftlers – auch die Wissenschaftsgeschichte der Juristen hat ihre schrillen Seiten.

Anarchisten vor Gericht und im "Kgl. Preußischen Polizeipräsidium"

Dass sich der Reichsgesetzgeber zwischen 1878 und 1890 der "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" annahm und mit dem "Sozialistengesetz" die politischen Organisationsmöglichkeiten der Arbeiterbewegung beschnitt, hat eine andere "gefährliche" Bewegung etwas aus dem Bewusstsein verdrängt.

Als wirklich gefährlich galten, zumal nach tödlichen Attentaten wie jenem auf die österreichische Kaisergattin Elisabeth "Sissi", die Anarchisten. 1898 vereinbarten die Staaten des Deutschen Reiches einen ständigen Datenabgleich über justizbekannte Anarchisten. Zwischen 1899 und 1917 wurde beim königlich preußischen Polizeipräsidenten zu Berlin ein so genanntes "Anarchistenalbum" geführt, das neben den Ausweisungsbefehlen gegen ausländische Wirrköpfe auch die Aufenthaltsverbote – auch Deutsche genossen keine generelle Freizügigkeit im Reichsgebiet –  gegen deutsche Vertreter des politischen Radikalismus verzeichnete. "Anarchistenalbum" hieß diese frühe Vorgängerin heutiger Extremistendateien, weil die einheitlich gestalteten Meldezettel erstmals systematisch auch Fotografien und Handschriftenproben der polizeibekannten Anarchisten erfassen sollten.

Neben strafrechtlichen Verurteilungen, der bekannte Anarchist Johann Neve starb 1896 unzurechnungsfähig im Zuchthaus Moabit – er war zu 15 Jahren Haft verurteilt worden –, wurden etliche Köpfe der Bewegung zwangsweise in die Psychiatrie verbracht. So verstarb der anarchistische Redner Friedrich Wilhelm Dempwolff 1904 als "gemeingefährlicher Geisteskranker" in der Irrenanstalt München.

Otto Gross – Anarchist, Psychoanalytiker und Sohn

Dieses Schicksal hätte auch Christian Krachts historischer Figur, dem Kokosnuss-Propheten Engelhardt gedroht, wäre der Weg von der deutschen Südseekolonie in eine preußische Irrenanstalt nicht ganz so weit gewesen. Zwei Jahre jünger als Engelhardt war Otto Gross (1877-1920), Sohn des österreichischen Juristen Hanns Gross (1847-1915), dessen Leben kaum weniger bewegt war: Der Mediziner war um das Jahr 1900 herum von den damals leicht verfügbaren Suchtstoffen Kokain und Opiaten abhängig geworden. Als Anhänger der schon damals als etwas esoterisch geltenden Lehre seines Wiener Kollegen Sigmund Freud machte sich Gross unter den Psychoanalytikern unbeliebt: Er hatte die gesellschaftliche Seite der Sexualität thematisiert, was der psychoanalytischen Doktrin widersprach und zu seinem Ausschluss aus der Bewegung führte.

Otto Gross vernetzte sich in Schwabing mit anarchistischen Intellektuellen. Mit einer Anzahl von Frauen aus der bürgerlichen und adeligen Boheme pflegte der praktizierende "Therapeut" auch intime Beziehungen. Eines seiner Kinder aus diesen Affären, seine 1916 geborene Tochter Sophie Templer-Kuh, wurde 2011 zum Ehrenmitglied des Landesverbandes Brandenburg im Bund Deutscher Kriminalbeamter – was mit Gross‘ Vater zu tun hat.

Hanns Gross – Jurist, Gründungsvater der Kriminalwissenschaft und Vater

Nachdem Otto, der drogensüchtige Anarchist und Psychoanalytiker 1913 aus dem preußischen Staatsgebiet nach Österreich ausgewiesen worden war, betrieb sein Vater Hanns Gross bei den Grazer Justizbehörden die Entmündigung und Unterbringung in einer österreichischen Irrenanstalt.

Ein wenig pikant war die ganze Sache: Vater Hanns Gross war selbst Richter in Graz gewesen und wurde später Professor für das österreichische Strafrecht und Strafprozessrecht an der Grazer Universität. Gross senior hatte sich um die Kriminalwissenschaften deutscher Sprache verdient gemacht.

Nach der österreichischen Strafprozessordnung von 1873 war der Untersuchungsrichter die wichtigste Figur im Ermittlungsverfahren. Hanns Gross setzte sich für die effektive Ausgestaltung dieses Amtes ein. An der faktischen Ermittlungsmacht der Polizei sollte zwar auch Österreich nicht vorbeikommen, doch war es der Richter und spätere Professor Gross, der moderne Ermittlungsmethoden propagierte. Im deutschsprachigen Raum sollte Graz für drei Generationen ein Zentrum der Kriminalwissenschaften bleiben. Die kriminologischen Lehrbücher von Hanns Gross waren, in stark überarbeiteten Auflagen, noch nach dem Zweiten Weltkrieg Standardwerke.

Daktyloskopie schlägt Bertillon’sche Messung

In den Gründerjahren der Kriminalwissenschaften spielte die persönliche Autorität eines Professors wie Hanns Gross eine nur noch schwer vorstellbare Rolle. Was als anerkannte Methode gelten durfte, war weit weniger ausgemacht als heute. Im Gespräch waren z.B. "Jodogramme", "Photogrammetrie", "Bertillonage", "Anthropometrie" oder "Signalements" – der Rechtshistoriker Milos Vec nannte diese "Ansätze der naturwissenschaftlichen Kriminalistik um 1900“ nachgerade einen "Thesaurus untergegangener Geheimwissenschaften". Selbst okkulte Ermittlungsmethoden wie die Opthografie waren noch nicht als vollständig wertlos erkannt.

Das Reichsgericht, in dogmatischen Fragen um ein "obiter dictum", eine juristische Besserwisserei ohne Entscheidungswert, selten verlegen, hatte beispielsweise in einem damals viel zitierten Urteil über die Zulässigkeit kriminalwissenschaftlicher Methoden keine eigene Meinung zur kriminalistischen Methodik. Am 2. Juni 1899 (Az. 1824/99) entschieden die Reichsgerichtsräte, dass die Verurteilung eines polizeibekannten Taschendiebs aus Posen wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt zu Recht erfolgt sei. Der Mann hatte sich nicht nur zur Wehr gesetzt, als es um eine Fotografie ging – vier Polizisten waren zudem erforderlich gewesen, um seine Gliedmaßen auseinanderzuzwingen: Sein Körper wurde für spätere Ermittlungszwecke im Detail ausgemessen. Dr. iur. Hans Schneickert (1876-1944), der spätere Leiter des Berliner Erkennungsdienstes, freute sich in der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" (ZStW Jg. 1915, S. 370-374) darüber, dass das Reichsgericht für diese polizeiliche Maßnahme die berühmte allgemeine Eingriffsermächtigung nach § 10 II. 17 des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 ausreichen ließ.

Dieser genauen Erfassung der Körpermaße des „berufsmäßigen Kriminellen“, der so genannten Bertillon’schen Messung schrieb man seinerzeit sogar höheren kriminalistischen Wert zu als der Daktyloskopie, also der Erfassung der Fingerabdrücke – jedenfalls solange, bis im weit verbreiteten Nachschlagewerk von Hanns Gross dem Fingerabdruck der Vorzug gegeben wurde. Die Grenzen zwischen Unfug und Wissenschaft waren noch längst nicht klar gezogen.

Rechtshistorischer Gedächtnisschwund

Seit einigen Jahren verleihen die Brandenburger Kriminalbeamten zwar einen "Hans-Gross-Preis“ für Verdienste um die Kriminalwissenschaften. Weitaus bekannter als der Kriminologe ist aber heute sein Sohn – sich mit Sigmund Freud über Sexualität gestritten zu haben, schafft mehr Nachruhm.

Berühmt geworden ist allenfalls Ernst Gennat, der legendäre Ermittler der Berliner Kriminalpolizei in der Weimarer Zeit. Die NS-Zeit verdeckt leider viele Erinnerungslinien. Das ist bedauerlich. Denn damals, als die Polizisten so gut wie alles erfassen durften, was die Kriminaltechnik ihrer Zeit hergab und ihnen kein Reichsgericht dazwischenfunkte: Da kamen sie sogar gelegentlich noch von selbst auf den Gedanken, dass etwa "Verbrecherfotographien" mit Ablauf von Bewährungsfristen zu vernichten seien – so eine Forderung von Hans Schneickert.

Nur den verwegenen Gedanken, dass Kriminaltechnik dem Verbrechen effektiv begegnen könnte, diesen Gedanken hat die Polizei nie vergessen.

Die Schreibweisen variieren im historischen Material von Hanns zu Hans, von Gross zu Groß oder Grosz.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Kriminalität und Wissenschaft: Der Sohn des Ermittlungspapstes . In: Legal Tribune Online, 25.03.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5856/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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