Vor 120 Jahren wurde Deutsch-Samoa gegründet: Ein Südsee-Para­dies gerät in die Hände von Juristen

von Martin Rath

01.03.2020

Am 1. März 1900 begann für die Einwohner der westlichen Samoa-Inseln offiziell die Herrschaft des Deutschen Reichs. Der Anspruch, imperiales Recht zu etablieren, verlief für die Betroffenen vergleichsweise glimpflich.

Die Geschichte der kolonialen Herrschaft europäischer Staaten auf allen Kontinenten wird heute aus einer Perspektive betrachtet, die ihren ideologischen Begründungen kaum noch normatives Gehör schenkt.

Neuere Studien rücken die Interessen und das Handeln der Menschen in den Vordergrund, die von kolonialer Herrschaft betroffen waren oder sie ausübten – unter den Bedingungen, die ihnen nicht zuletzt das Recht bot.

Die Frankfurter Historikerin Rebekka Habermas (1959–) legte beispielsweise 2016 mit "Skandal in Togo" ein Werk zum Fall eines deutschen Kolonialbeamten vor, der im Jahr 1900 trotz starker Beweise vom Vorwurf der Vergewaltigung einer sehr jungen Frau freigesprochen wurde – was sich nicht gänzlich, aber doch auch durch die koloniale Rechtsordnung erschließen lässt. Der heute in Hamburg lehrende Historiker Jürgen Zimmerer (1965–) hat seit seiner 2001 veröffentlichten Dissertation "Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia" einige öffentliche Aufmerksamkeit für die – unter anderem durch ein perfides Ausweisrecht betriebene – Entrechtung der Menschen im damaligen Deutsch-Südwestafrika gewinnen können.

Wenn zwei oder drei Konsuln zusammenkommen, wird es schwierig

Neben dem Fall Namibias – in New York war bis zum März 2019 die Klage von Herero- und Nama-Vertretern wegen des Völkermords avant la lettre gegen die Bundesrepublik anhängig – ist es aber im besten Fall noch die Forderung nach Restitution von unter kolonialer Herrschaft nach Europa verbrachten Kulturgütern afrikanischer, asiatischer und pazifischer Völker, der rechtliches Gehör jedenfalls nicht mehr vollständig verweigert wird.

Dass am 1. März 1900 durch das Hissen der deutschen Flagge auf dem Gebiet der Ortschaft Apia – mit heute rund 37.000 Einwohnern Hauptstadt des Pazifikstaats Samoa – ein formaler Akt kolonialer Machtergreifung erfolgte, ist inzwischen kaum mehr als ein Datum für Touristik-Unternehmen. Doch bündelt sich in diesem Ereignis die Vorgeschichte eines Machtkampfes, in dem ein Grundprinzip des imperialen Rechts wesentliche Konflikte erzeugt hatte.

Die kleinen Inseln des Pazifiks waren im 19. Jahrhundert für die Mächte Europas, für die USA, aber auch Japan vor allem aus logistischen Gründen von Interesse – ein Kohlenbunker für die zivile wie militärische Seefahrt bildete meist den Anfang fremder Herrschaft. Das ökonomische Interesse an Palmöl und Kautschuk, Schlüsselressourcen der rasch wachsenden Elektro- und chemischen Industrie, kam hinzu.

Um die Herrschaft auf den Samoa-Inseln konkurrierten seit den 1870er Jahren deutsche, britische und amerikanische Akteure. Aufgrund dieser Konkurrenz brauchte es gut 30 Jahre, um mit dem zentralen Instrument der imperialen Machtausweitung auf Samoa einen Kolonialstaat einzurichten.

Um Herrschaftsansprüche in Gebieten durchzusetzen, in denen eine nur schwache oder gar keine staatliche Ordnung anzutreffen war, die sich mit den modernen Eckbegriffen von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt beschreiben ließ, bedienten sich die europäischen Mächte des Konsularrechts.

In § 1 des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli 1879 hieß es beispielsweise, dass die Konsulargerichtsbarkeit in Ländern ausgeübt werde "in welchen ihre Ausübung durch Herkommen oder durch Staatsvertrag gestattet ist". Für die Verfolgung von Straftaten deutscher Staatsangehöriger oder sogenannter Schutzgenossen war in diesen Ländern nicht die einheimische Staatsgewalt – soweit vorhanden – zuständig, sondern der deutsche Konsul. Das Gesetz wies ihm – in einer Person – die Aufgaben des Staatsanwalts und des Amtsrichters nach der Strafprozessordnung zu. Für schwere Verbrechen, die in die Zuständigkeit des Reichs- oder eines Schwurgerichts fielen, hatte er jedenfalls die Ermittlungsarbeit zu besorgen. Die Novelle des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 7. April 1900 gestaltete die Kompetenzen des deut-chen Konsuls sehr detailliert weiter aus, erlaubte ihm beispielsweise für seinen Bezirk Polizeivorschriften aufzustellen.

Imperiale Herrschaft trat weniger durch sichtbare militärische Gewalt in Erscheinung als durch die Fähigkeit, auf fremdem Staatsgebiet eigenes Recht zu üben – konkret also die eigenen Staatsangehörigen von den Regeln ihres Gastlands auszunehmen – nicht nur im Strafrecht, sondern auch in so vielen zivilrechtlichen Materien wie nur möglich.

Als vorbildlich galt den nachfolgenden imperialen Mächten vor allem das Vereinigte Königreich. Dem British Supreme Court for China mit Sitz in Shanghai waren seit 1865 die Rechtssachen von Bürgern des britischen Weltreichs im Kaiserreich China – zeitweise auch Japans und Koreas – zugewiesen. Für die britischen Herrschaftsgebiete waren, sofern keine direkte Kolonialgerichtsbarkeit etabliert wurde, ebenfalls Konsular- oder vergleichbare Gerichte zuständig. Im Königreich Ägypten bestanden etwa zwischen 1876 und 1949 sogenannte Gemischte Gerichtshöfe.

Auf den seinerzeit von kaum 40.000 Menschen bevölkerten Samoa-Inseln kam es seit den 1870er Jahren nicht nur zu einem Wettlauf zwischen Amerikanern, Briten und Deutschen, was die militärische Präsenz betraf – ihre Konsuln drohten sich auch rechtlich ins Gehege zu kommen. 

(West-) Samoa – ein vergleichsweise glimpflicher Fall von Kolonialstaatsgründung

Durch Vertrag vom 14. Juni 1889 vereinbarten die USA, das Vereinigte Königreich und das Deutsche Reich daher, die Samoa-Inseln als "neutrales Gebiet" zu behandeln, in dem ihre Staatsangehörigen gleiche Rechte haben sollten.

Um diese gemeinsame Exterritorialität gegenüber den "Eingeborenen" zu regeln, sollte von den drei Vertragsparteien ein Oberrichter ernannt werden. Sollte über diesen kein Einvernehmen erzielt werden, kam dem König von Schweden und Norwegen – die Trennung dieser beiden Staaten erfolgte erst 1905 – das Recht zur Ernennung zu. Auch für Streitfragen um die Amtskompetenzen des sogenannten Königs von Samoa und die auf den einzelnen Inseln starken Häuptlinge – die drei Mächte hatten aus der Berufung des Königs einen kleinen Stellvertreterkampf zwischen den Inseln gemacht –  sollte der Oberrichter zuständig sein. Daher hatte die Regierung Samoas seine Ernennung jedenfalls freundlich zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie auch kein eigenes Mitspracherecht haben sollte.

In einem gemeinsamen Verwaltungsbezirk der Hauptortschaft Apia sollte ein sogenannter Muni-zipalrat die Gesetzgebung und auch Rechtsprechung übernehmen. Dessen Vorsitzender sollte, wenn die drei Mächte sich nicht verständigten, aus Schweden, den Niederlanden, der Schweiz oder Mexiko herangeholt werden. Seine Kompetenz gegenüber dem von den USA, dem Verei-nigten Königreich und Deutschland anerkannten "König" sollte darin liegen, ihm "Rat" zu geben – im Sinne der gemeinsamen Interessen der ausländischen Staaten.

Diese Machtverteilung währte nicht lange. Nach dem Tod des 1881 von britischen, amerikanischen und deutschen Gnaden gekürten Königs Susuga Malietoa Laupepa (1841–1898) drohte 1899 über der Nachfolgefrage erneut ein Konflikt zwischen den drei Mächten auszubrechen.

"Deutsch-Samoa" zwischen 1900 und 1914/1919

Durch ein deutsch-englisches Abkommen, dem die USA beitraten, verzichtete das Vereinigte Königreich auf seine Herrschaftsansprüche hinsichtlich der Inselgruppe, das Deutsche Reich erhob zugunsten der USA keine Ansprüche auf den östlichen Teil, der bis heute das US-Außengebiet Amerikanisch-Samoa bildet, während die westlichen Inseln 1962 von der Mandatsmacht Neuseeland in die Unabhängigkeit entlassen wurden.

An die Stelle des deutschen Konsuls trat ein Gouverneur. Die im fernen Berlin produzierten Gesetze beispielsweise dazu, welches Recht für Samoa weitergelten sollte oder wer nunmehr "Eingeborener" sei, zeugten zwar von juristischer Regelungslust, aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung war der rechtliche Status des neuen "Schutzgebiets" aber kaum von einem formal souveränen Gebilde unter der Kuratel von starken ausländischen Konsuln zu unterscheiden.

Von den schlimmsten Verheerungen direkter kolonialer Herrschaft blieb Samoa verschont. In den deutschen Kolonialstaaten Afrikas hatte die Besteuerung der "Eingeborenen" dazu dienen sollen, sie "zur Arbeit zu erziehen". In Gesellschaften ohne funktionierende Geldwirtschaft – die ja auch in Europa selbst noch lange nicht im Girokonto-Zeitalter angelangt war – lief die Besteuerung nahezu unvermittelt auf Zwangsarbeit, faktische Sklaverei hinaus.

Auf den Inseln Samoas bediente sich der deutsche Staat hingegen zur Deckung der Arbeitskraft für den Bau der nun allfälligen Dienstgebäude und Straßen einiger hundert chinesischer Kontraktarbeiter.

Dem ersten Gouverneur von "Deutsch-Samoa", einem ausgebildeten Indologen, war Aufgeschlossenheit gegenüber der Sprache und Kultur des Landes nicht abzusprechen. Hanna (1887–1954) und Gouverneur Wilhelm Solf (1862–1936) nannten ihre 1909 geborene Tochter gar So'oa'emalelagi. Das Prinzip Solfs, sich möglichst nicht in die Verhältnisse der "Eingeborenen" einzumischen, war umso leichter zu erfüllen, als der räumliche Abstand von Deutschland und das Fehlen einer nennenswerten militärischen Staatsgewalt kaum etwas anderes zuließ.

Das deutsche Recht auf Samoa ist – soweit erkennbar – bisher nicht historisch-kritisch erschlossen worden, obwohl sich hier spannendende Themen abzeichnen. Das gilt zum Beispiel für eine Verordnung, nach der das "rassische" Kriterium, nicht "weiß" zu sein, durch "europäische Bildung" zu substituieren war. Interessant ist auch, dass das preußische Gesinderecht dazu gedient haben soll, die körperliche Gewalt gegen die chinesischen Kontraktarbeiter zu rechtfertigen. Der Blick ins Gesetz zeigt jedenfalls, dass preußisches öffentliches und bürgerliches Recht da gelten sollte, wo etwa das Bürgerliche Gesetzbuch nicht weiterhalf.

"Galt das Preußische Allgemeine Landrecht auch in der Südsee?", wäre zwar eine an Bösartigkeit ausgesucht schöne Frage für mündliche Staatsprüfungen, als Motiv, die deutschen Kolonialstaaten auch juristisch intensiver aufzuarbeiten, sollte sie allein natürlich nicht herhalten müssen.

Zitiervorschlag

Vor 120 Jahren wurde Deutsch-Samoa gegründet: Ein Südsee-Paradies gerät in die Hände von Juristen . In: Legal Tribune Online, 01.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40563/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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