Recht auf Wahrheit: Gegen das Ver­schwin­den­lassen

von Martin Rath

24.03.2019

Auf den ersten Blick scheint der 24. März nur wieder einer dieser merkwürdigen UN-Aktionstage zu sein. Bei näherem Hinsehen gilt er der Forderung, mit dem Habeas Corpus das vielleicht älteste Menschenrecht überhaupt zu verteidigen.

Am 24. März 1980 wurde Oscar Romero, der römisch-katholische Erzbischof von San Salvador, während eines Gottesdienstes ermordet. Anlass gab die in den Jahren zuvor herangereifte Opposition des Priesters gegen die Gewalt, der unter anderem die Angehörigen der Landarbeitergewerkschaften des mittelamerikanischen Kleinstaats ausgesetzt waren.

In der Geschichte, die im kirchlichen Raum von Romero erzählt wird, heißt es, dass die Ermordung des Jesuitenpaters Rutilio Grande (1928–1977), eines Vertreters der Befreiungstheologie, Romero veranlasst habe, den staatlich gedeckten, wenn nicht angeordneten rechtsextremen Terrorismus offen zu kritisieren, dem in den Ländern Lateinamerikas zwischen den 1960er und 1990er Jahren Abertausende Menschen zum Opfer fielen.

Die juristische Aufbereitung des Mordfalls Romero ist eine eigene Geschichte, die hier nicht darzustellen ist. 2018 wurde ein Strafverfahren wieder aufgenommen, nachdem die mutmaßlichen Täter zwischenzeitlich amnestiert worden waren, einer sogar zum Parlamentsabgeordneten aufrückte. Die Sache ist wieder anhängig.

Mit Blick auf den "Internationalen Tag für das Recht auf Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen und für die Würde der Opfer", den die Vereinten Nationen im Jahr 2010 ausriefen, mag es hier festzuhalten genügen, dass zu den Methoden der Militärdiktaturen Lateinamerikas in dieser Epoche neben systematischer Folter, der spurlosen Entziehung von Kindern mutmaßlicher Oppositioneller, justizfreier Gefangenschaft und Tötung durch sogenannte Todesschwadronen das "Verschwindenlassen" von potenziellen Regierungsgegnern zählte. Dies galt auch für den Bürgerkrieg, der in El Salvador spätestens nach der Ermordung des Erzbischofs ausbrach.

"Recht auf Wahrheit" – dogmatisch vielleicht fragwürdig, aber notwendig

Dass es ein "Recht auf Wahrheit" geben könnte, muss beim dogmatisch denkenden Juristen auf Vorbehalte stoßen. Derart belastet mit ethischen, erkenntnistheoretischen, geschichtswissenschaftlichen und theologischen Bedeutungen, wie es das Wort "Wahrheit" ist, kann die Frage, wer hier woraus auf was klagen könnte, nur zur Verwirrung führen – es ist darin vergleichbar mit anderen abendländischen Großvokabeln wie "Gerechtigkeit", "Liebe" oder "Gesundheit", die, wenn überhaupt, zunächst positiv-rechtlich konkretisiert und damit für handhabbare Fallkonstellationen konfektioniert sein wollen.

Das "Recht auf Wahrheit" entwickelte sich seit den 1970er Jahren jedoch als ein griffiges Bündel von Einzelansprüchen, die insbesondere gegen die rechtsextremen staatsterroristischen Regimes Lateinamerikas formuliert wurden.

Der erste Fall, der hierzu rechtshängig wurde, betraf Manfredo Velásquez, der am 12. September 1981 in Tegucigalpa, Hauptstadt von Honduras, von schwer bewaffneten Männern auf offener Straße entführt worden war. Im späteren Verfahren sollte sich herausstellen, dass er von den Angehörigen der sogenannten Sicherheitskräfte gefoltert und getötet, seine Leiche zerstückelt und an getrennten Orten verscharrt worden war, um eine Identifizierung zu verhindern. Grund für das Verbrechen gab Velásquez' Arbeit als Lehrer und Sekretär einer Studentenorganisation.

Während die honduranischen Polizeibehörden abstritten, mit dem Verschwinden Velásquez' etwas zu tun gehabt zu haben und ordentliche Ermittlungen mit der Behauptung ablehnten, er habe sich wohl einer linken Guerilla-Gruppe angeschlossen, nutzte seine Schwester Zenaida Velásquez die ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel, von den staatlichen Stellen Auskunft über den Aufenthaltsort und das weitere Schicksal zu erhalten.

Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Velásquez

Bereits im Oktober 1981 wandte sich Zenaida Velásquez an die Interamerikanische Menschenrechtskommission, ein 1959 eingerichtetes Organ der Organisation Amerikanischer Staaten mit Sitz in Washington D.C.

Fünf Jahre später legte die Kommission die Sache dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte vor, der ab 1987 hierzu verhandelte und am 29. Juli 1988 entschied, dass der honduranische Staat für das Verschwinden von Velásquez und drei weiterer Menschen zu haften habe.

Neben der Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern und die Hinterbliebenen zu entschädigen, trage der Staat auch die Pflicht, alle seine Möglichkeiten auszuschöpfen, sie über das Schicksal ihrer verschleppten Familienangehörigen zu unterrichten und ihnen die sterblichen Überreste zugänglich zu machen.

Unter den Titel eines "Rechts auf Wahrheit" wurden derartige Ansprüche nicht zuletzt deshalb gefasst, um die sozialen Folgen greifbar zu machen, denen die mittelbaren Opfer des rechtsextremen Staatsterrors ausgesetzt waren. Auf zunächst internationaler Ebene anerkannt wurde, dass die Ungewissheit über den Verbleib der "verschwundenen" Familienangehörigen auf eine psychische Folter hinausläuft, denen die Eltern, Geschwister und Kinder umso brutaler ausgesetzt blieben, je länger der Staat ihnen eine ordentliche Aufklärung verweigerte.

Die auch theologische und ethische Semantik des "Rechts auf Wahrheit" erlaubte es zugleich dem oftmals mit den Militärregimes kollaborierenden oder sympathisierenden konservativ-altliberalen Bürgertum der lateinamerikanischen Staaten, nicht linke Oppisition zu wittern, sondern einen naturrechtlichen Anspruch zu entdecken.

Mit Blick auf die natürlichen Bindungen wurden die "Madres de Plaza de Mayo" (Mütter des Platzes der Mairevolution), die um Auskunft über das Schicksal ihrer Kinder und Enkel kämpften, die von den Beamten und Soldaten der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) verschleppt, gefoltert und ermordet worden waren, auch zur weltweit bekanntesten Gruppe.

Indem sie, wie viele weniger bekannte Organisationen, die vor allem mütterliche und geschwisterliche Liebe als Motiv ihres Anspruchs thematisierten, konnten sie unter den Bedingungen der Diktatur auftreten, ohne selbst sogleich als offene politische Opposition dem rechtsextremen Staatsterror zum Opfer zu fallen. Als Motiv ist diese Konstellation – Familienliebe gegen Staatsgesetz – bereits in Sophokles' "Antigone" enthalten. Die Kunst vermittelt hier schon lange, was das Gewissen befiehlt.

Staatspolitische und positiv-rechtliche Verästelungen

Insbesondere in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums seit 1989 und der förmlichen Beendigung der lateinamerikanischen Militärdiktaturen sowie der beiden südafrikanischen Apartheitsstaaten in den 1980er bis 1990er Jahren einhergingen, wurde mit sogenannten Wahrheitskommissionen der Versuch gemacht, staatliche Verbrechen in Gremien zu klären, die nicht zwingend Strafverfahren einleiten sollten.

Auch sie wurden auf das rechtspolitisch und rechtsdogmatisch noch offene "Recht auf Wahrheit" gestützt.

Eine konkrete positiv-rechtliche Ausprägung erfuhr das "Recht auf Wahrheit" aber u.a. in Art. 7 Abs. 1 lit. i) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs sowie durch § 7 Abs. 1 Nr. 7 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), die das "Verschwindenlassen" als Verbrechen gegen die Menschheit (nach obskurer deutscher Terminologie "Menschlichkeit") definieren. Insbesondere das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, dem die Bundesrepublik Deutschland mit Einschränkungen beitrat, legt den Staaten umfangreiche Pflichten zur Verfolgung und Aufklärung des Verschwindenlassens auf.

Gutes altes Recht in neuer sozialer Ausgestaltung

Indem beispielsweise Art. 17 dieses Übereinkommens vorschreibt, dass niemand "geheim in Haft gehalten werden" darf und die Kommunikation mit Familie und Rechtsbeistand in einer Weise zu gewährleisten ist, die verhindern, dass ein Häftling der Welt ohne gesetzliches Verfahren abhandenkommt, hat dieser Teilanspruch aus dem Konstruktbündel des "Rechts auf Wahrheit" einige Familienähnlichkeit mit den spätestens seit 1679 verbrieften Habeas-Corpus-Rechten.

Weil Staaten seither die Freiheitsentziehung von einer richterlichen Entscheidung abhängig machten und damit ein Mindestmaß an förmlichem und öffentlichem Vorgehen garantierten, seien sie überhaupt erst zu Rechtsstaaten geworden, erklärt beispielsweise Martin Kriele (1931–) in seiner "Einführung in die Staatslehre". Der Habeas Corpus sei damit älter als die Glaubens- oder Bekenntnisfreiheit – vorliberale Staaten erlaubten sich zwar noch, weltanschauliche Dissidenten zu bestrafen, taten dies aber bereits in einem förmlichen Procedere.

Das auf den ersten, dogmatischen Blick vielleicht etwas obskure "Recht auf Wahrheit", konkretisiert als "Recht gegen das Verschwindenlassen", und der 24. März erinnern damit auch an das wohl älteste Fundamentalgrundrecht überhaupt.

Das ist auch nötig. Denn wie schnell der Habeas Corpus und ein Staat, der ihn gewährleistet, in einem Akt von "Bürgerverrat" (Böckenförde) als dispositionsfähig behandelt werden können, lässt sich am Beispiel des chilenischen Militärputschs von 1973 entdecken, dem auch die sich als bürgerlich verstehende Presse zwischen FAZ und Welt seinerzeit einen höheren Sinn abgewinnen konnte, oder darin, wie fröhlich die deutschen Athleten und Funktionäre 1978 an der Fußball-Weltmeisterschaft in Argentinien teilnehmen konnten, ungeachtet des Umstands, dass ihre Gastgeber systematisch Menschen verschwinden ließen – unter ihren Opfern auch Deutsche.

Literatur dazu (Auswahl): Oscar A. Romero: In meiner Bedrängnis. Tagebuch eines Märtyrerbischofs 1978–1980, Freiburg/Br. (Herder) 1993. James R. Brockman: Oscar Romero. Eine Biographie, Freiburg/Schw. (Paulusverlag) 1990. Emilio Crenzel: Memory of the Argentinia Disappearances. The Political History of Nunca Más, New York (Routledge) 2012. Empfehlenswert ist: José Brunner & Daniel Stahl (Hrsg.): Recht auf Wahrheit. Zur Genese eines neuen Menschenrechts, Göttingen (Wallstein) 2016.

 

Zitiervorschlag

Recht auf Wahrheit: Gegen das Verschwindenlassen . In: Legal Tribune Online, 24.03.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/34543/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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