Seit der rheinische Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied und der sächsische Kleinkriminelle Karl May das hohe Lied des Indianers sangen, sind Winnetou & Co. fester Bestandteil der deutschen Leitkultur. Zeit für ein Upgrade im Indianerrecht.
Legion ist die Zahl der Juristen, die sich unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten dem Leben und der Werke des Lehramtsstudenten, Zuchthäuslers und Schriftstellers Karl May (1842–1912) angenommen haben. Mit Claus Roxin hat der literarische Erfinder des nordamerikanischen Indianerfürsten einen sehr prominenten Fürsprecher in der Zunft gefunden.
Auch wenn fantastische Schriftstellerkollegen wie John R.R. Tolkien (1892–1973) oder J.K. Rowling (1965–) dem berühmtesten Spross des sächsischen Strafvollzugs längst den Rang in der fantastischen Literatur abgelaufen haben, kann der Einfluss seiner Indianer-Figur kaum unterschätzt werden: Der Kabarettist Matthias Deutschmann schrieb beispielsweise den "Winnetou"-Verfilmungen der 1960er Jahre ein Gutteil Verantwortung für den – lange Zeit eher in linken und linksliberalen Kreisen gepflegten – Antiamerikanismus zu: Der christusgleiche Indianerhäuptling musste sterben, weil am Ende die Kavellerie doch zu spät kam.
Das mag im kabarettistischen Scherz gesprochen sein, regt aber zur Spekulation an, ob die Sympathien etwa für Barack H. Obama (1961–) in gewissen Kreisen ausgeprägter gewesen wären, hätte man mehr um die rechtspolitischen Verdienste dieses US-Präsidenten auf dem Gebiet indianischer Interessen gewusst.
Rechtsgelehrter indianischer Richter/Professor
Unter anderem vom indianerrechtspolitischen Wirken Obamas und seiner demokratischen Parteigänger erfahren wir aus dem aktuellen Aufsatz: "Anishinaabe Law and the Round House" des amerikanischen Juraprofessors Matthew L.M. Fletcher, der als Richter am Appellationsgericht des Hoopa-Valley-Stammes sowie der Potawatomi-Horden der Nottawaseppi-Huronen, der Creek und Pokakon zudem eine Amtsbezeichnung führt, mit deren barocker Fülle wohl kaum ein deutscher Richterkollege aufwarten kann.
Mit dem "Tribal Law and Order Act" unterzeichnete Obama im Jahr 2012 ein Gesetz, das den indigenen Völkern auf dem Gebiet der USA größere Spielräume in der Reorganisation ihres jeweiligen Stammes-Strafrechts gab und mit der "Indian Law and Order Commission" ein Gremium schuf, dem die politische Supervision dieses Prozesses anvertraut wurde.
Fletcher, Direktor des Instituts für Indianerpolitik und -recht an der Staatsuniversität von Michigan, billigt diesen gesetzgeberischen Bemühungen der US-Zentralgewalt immerhin zu, gute Absichten verfolgt zu haben, zeichnet im erwähnten Aufsatz aber vor allem ein Bild nach wie vor höchst problematischer Verhältnisse und gibt unter anderem einen interessanten Einblick in das Konstrukt des "mino-bimaadziwin".
Ein bisschen Indianer-Idyll muss sein
Bis zur Ankunft der neuen europäischen Herren über das Land habe unter den Indianern der Region rund um die Großen Seen – in dem auch Richter Fletchers Gerichtssprengel liegt – ein die Lebensführung in rechtlicher wie sozialer Hinsicht durchdringendes Prinzip names "mino-bimaadziwin" geherrscht, das der indigene Rechtsgelehrte vage mit der Forderung nach "gutem Leben" in Einklang mit der als beseelt imaginierten Natur übersetzt.
Dass es sich dabei nicht um jene verklärte Phrase handelt, die man – aus dem Mund deutscher Esoteriker vernommen – mit der Applikation von Hopi-Ohrreinigungskerzen nicht unter drei Jahren bestrafen möchte, belegt Fletcher mit einer eindrücklichen Darstellung der Brutalität in der voreuropäischen Lebenswelt der indigenen Menschen rund um die Großen Seen: Selbst bei Verletzung wichtiger individueller Rechtsgüter konnten sich die inidigenen Gruppen eine adäquate Sanktion des Missetäters regelmäßig nicht erlauben, waren sie doch viel zu sehr auf dessen körperliche Arbeitskraft, sein Wissen und seine Funktion als Familienangehöriger angewiesen.
Nachhaltige Verstöße gegen die enge Sozialordnung des "mino-bimaadziwin", die sich nicht mehr auf mediatorischem Weg bewältigen ließen, konnten jedoch dazu führen, dass Menschen von ihrer dörflichen Umwelt als "windigo" erkannt wurden – als Mensch gewordene Präsenz eines schrecklichen und übernatürlichen kannibalischen Mörders. Wer als "windigo" verteufelt wurde, dessen Tötung galt als gerechtfertigt.
2/2: Ohne Schuld wird das Böse eben vernichtet
Die Figur des "windigo" habe, so Fletcher, vor allem im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine starke Konjunktur gehabt, die mit der Aneignung indianischer Landrechte durch US- bzw. einzelstaatliche Regierungen sowie durch europastämmige Zuwanderer einherging. Verteufelung als Ausdruck gesellschaftlicher Krisen, ganz unbekannt ist das Prinzip auch aufgeklärten Westlern nicht.
Vor allem in den Notzeiten des Winters fielen nun "windigo" aus der hergebrachten Sozialordnung – der Kannibalismusverdacht, der zur Absonderung von bisher zur eigenen Gesellschaft gezählten Menschen diente, brauchte gleichwohl nicht zuzutreffen. Kannibalismus scheint in allen Stammesgesellschaften, weltweit, das radikal Böse zu bezeichnen. Nicht Realität, sondern die Vorwürfe und Ängste führten zur Tötung des Verdächtigten.
Damit beschreibt Fletcher ein System, in dem unerwünschtes Verhalten jenseits der Grenzen des "mino-bimaadziwin", der guten Lebensführung, als eine Entartung betrachtet wurde, die eine physische Vernichtung nach sich zog, vollzogen durch direkte Tötung oder Ausschluss aus der lebenserhaltenden Gemeinschaft.
Bis diese Schwelle überschritten war, blieb in der alten Sozialordnung freilich viel mehr Raum, aber auch Notwendigkeit, abweichendes Verhalten als der Mediation oder "Heilung" zugänglich zu betrachten. Auf diesen Aspekt verweisen westliche Freunde der "gewaltfreien Sprache" und des Mediationsprinzips bekanntlich gerne, wenn sie aufs Idyll nicht-westlicher Sozialordnungen schauen, während die brutale Seite – die physische Vernichtung "unheilbarer" Delinquenten – meist fromm verschwiegen wird.
Zuständigkeitsabsurditäten in gesteigerter Form
Die Siedlungsgebiete indigener Ethnien in Nordamerika bezeichnet der Indianerrechtsprofessor und Richter Fletcher als von überdurchschnittlicher Gewalt geprägt.
Beginnend mit der Indianergesetzgebung unter Franklin D. Roosevelt, verstärkt seit der Amtszeit von Richard Nixon und neuerdings unter Barack Obama erhielten die indigenen Ethnien eine Anzahl von Kompetenzen, beispielsweise die Strafrechtspflege nach eigenen Vorstellungen zu organisieren.
Insbesondere im Bereich der häuslichen Gewalt sieht Fletcher die indigene Rechtspflege aber als bislang gescheitert an. Gewalt im engeren Gesichtskreis der Betroffenen werde weder nach Stammesrecht noch nach den Prinzipien "weißer" Strafansprüche hinreichend angegangen.
Fletcher illustriert dies an der Rachegeschichte im Roman "The Round House" seiner Anishinaabe-Landsmännin und Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich (2016 deutsch als "Das Haus des Windes" erschienen): Ein Verbrechen zieht Folgen nach sich, von denen sich nicht recht sagen lässt, ob man sie unter "Selbstjustiz", "Rache" oder den Restbeständen einer "mino-bimaadziwin"-Ordnung subsumieren möchte (das Kannibalismus-Thema wird, nebenbei, als Organspende-Problem aufgegriffen).
Recht zwischen Archaik und Moderne
Die in den USA nicht seltenen Zuständigkeitsprobleme – man kennt dies aus Polizeifilmen, in denen sich diverse Uniformierte am Tatort um die Arbeit streiten – sind im indianischen Kontext noch dadurch erschwert, dass den Stammesgerichten die Sanktionsgewalt über nichtindianische Verdächtige fehlt, was angesichts der oft längst nicht mehr "rassisch" wohlsortierten zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht zuletzt bei häuslicher Gewalt, zu absurden Ermittlungs- und Sanktionskonstellationen führt.
In der neuen bzw. bestätigten Kompetenz, eigenes Recht zu setzen, orientierten sich die indigenen Völker der USA regelmäßig an den Normen der umliegenden US-Bundesstaaten oder am gemeinen Recht der USA. Ob es dabei gelingen kann, (neo-) traditionelle Elemente der Schlichtung und Heilung beizubehalten oder zu reanimieren, bleibt einstweilen offen.
Das Indianerrecht der USA ist eine interessante Angelegenheit, als ein Praxislabor, in dem seit rund 200 Jahren Elemente archaischer und moderner Rechtskulturen aufeinandertreffen.
Wie stark, ja revitalisierungsfähig die Vor-Moderne dabei sein könnte, zeigt nicht zuletzt, dass der rechtsgelehrte indigene Professor und Richter dem "mino-bimaadziwin" einen Status als Quelle normativer Legitimität zubilligt, ähnlich unserem Souveränitätsprinzip – und was ist letzteres, Hand aufs Herz, mehr, als ein fast magisch anmutendes metaphysisches Konstrukt unter dem archaischen Symbol eines wohlgenährten deutschen Bundesadlers?
Hinweise: Matthew L. M. Fletcher: "Anishinaabe Law and The Round House" erscheint in der Albany Government Law Review, Vol. 10, 2017. Louise Endrich: "Das Haus des Windes", Berlin (Aufbau-Verlag) 2016, 384 Seiten, ISBN-13: 978-3746631509, 9,99 Euro.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Indianerrecht: Die rechtliche Dimension des "mino-bimaadziwin" . In: Legal Tribune Online, 07.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22833/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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