Indianerrecht: Die recht­liche Dimen­sion des "mino-bimaad­ziwin"

von Martin Rath

07.05.2017

2/2: Ohne Schuld wird das Böse eben vernichtet

Die Figur des "windigo" habe, so Fletcher, vor allem im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert eine starke Konjunktur gehabt, die mit der Aneignung indianischer Landrechte durch US- bzw. einzelstaatliche Regierungen sowie durch europastämmige Zuwanderer einherging. Verteufelung als Ausdruck gesellschaftlicher Krisen, ganz unbekannt ist das Prinzip auch aufgeklärten Westlern nicht.

Vor allem in den Notzeiten des Winters fielen nun "windigo" aus der hergebrachten Sozialordnung – der Kannibalismusverdacht, der zur Absonderung von bisher zur eigenen Gesellschaft gezählten Menschen diente, brauchte gleichwohl nicht zuzutreffen. Kannibalismus scheint in allen Stammesgesellschaften, weltweit, das radikal Böse zu bezeichnen. Nicht Realität, sondern die Vorwürfe und Ängste führten zur Tötung des Verdächtigten.

Damit beschreibt Fletcher ein System, in dem unerwünschtes Verhalten jenseits der Grenzen des "mino-bimaadziwin", der guten Lebensführung, als eine Entartung betrachtet wurde, die eine physische Vernichtung nach sich zog, vollzogen durch direkte Tötung oder Ausschluss aus der lebenserhaltenden Gemeinschaft.

Bis diese Schwelle überschritten war, blieb in der alten Sozialordnung freilich viel mehr Raum, aber auch Notwendigkeit, abweichendes Verhalten als der Mediation oder "Heilung" zugänglich zu betrachten. Auf diesen Aspekt verweisen westliche Freunde der "gewaltfreien Sprache" und des Mediationsprinzips bekanntlich gerne, wenn sie aufs Idyll nicht-westlicher Sozialordnungen schauen, während die brutale Seite – die physische Vernichtung "unheilbarer" Delinquenten – meist fromm verschwiegen wird.

Zuständigkeitsabsurditäten in gesteigerter Form

Die Siedlungsgebiete indigener Ethnien in Nordamerika bezeichnet der Indianerrechtsprofessor und Richter Fletcher als von überdurchschnittlicher Gewalt geprägt.

Beginnend mit der Indianergesetzgebung unter Franklin D. Roosevelt, verstärkt seit der Amtszeit von Richard Nixon und neuerdings unter Barack Obama erhielten die indigenen Ethnien eine Anzahl von Kompetenzen, beispielsweise die Strafrechtspflege nach eigenen Vorstellungen zu organisieren.

Insbesondere im Bereich der häuslichen Gewalt sieht Fletcher die indigene Rechtspflege aber als bislang gescheitert an. Gewalt im engeren Gesichtskreis der Betroffenen werde weder nach Stammesrecht noch nach den Prinzipien "weißer" Strafansprüche hinreichend angegangen.

Fletcher illustriert dies an der Rachegeschichte im Roman "The Round House" seiner Anishinaabe-Landsmännin und Pulitzer-Preisträgerin Louise Erdrich (2016 deutsch als "Das Haus des Windes" erschienen): Ein Verbrechen zieht Folgen nach sich, von denen sich nicht recht sagen lässt, ob man sie unter "Selbstjustiz", "Rache" oder den Restbeständen einer "mino-bimaadziwin"-Ordnung subsumieren möchte (das Kannibalismus-Thema wird, nebenbei, als Organspende-Problem aufgegriffen).

Recht zwischen Archaik und Moderne

Die in den USA nicht seltenen Zuständigkeitsprobleme – man kennt dies aus Polizeifilmen, in denen sich diverse Uniformierte am Tatort um die Arbeit streiten – sind im indianischen Kontext noch dadurch erschwert, dass den Stammesgerichten die Sanktionsgewalt über nichtindianische Verdächtige fehlt, was angesichts der oft längst nicht mehr "rassisch" wohlsortierten zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht zuletzt bei häuslicher Gewalt, zu absurden Ermittlungs- und Sanktionskonstellationen führt.

In der neuen bzw. bestätigten Kompetenz, eigenes Recht zu setzen, orientierten sich die indigenen Völker der USA regelmäßig an den Normen der umliegenden US-Bundesstaaten oder am gemeinen Recht der USA. Ob es dabei gelingen kann, (neo-) traditionelle Elemente der Schlichtung und Heilung beizubehalten oder zu reanimieren, bleibt einstweilen offen.

Das Indianerrecht der USA ist eine interessante Angelegenheit, als ein Praxislabor, in dem seit rund 200 Jahren Elemente archaischer und moderner Rechtskulturen aufeinandertreffen.

Wie stark, ja revitalisierungsfähig die Vor-Moderne dabei sein könnte, zeigt nicht zuletzt, dass der rechtsgelehrte indigene Professor und Richter dem "mino-bimaadziwin" einen Status als Quelle normativer Legitimität zubilligt, ähnlich unserem Souveränitätsprinzip – und was ist letzteres, Hand aufs Herz, mehr, als ein fast magisch anmutendes metaphysisches Konstrukt unter dem archaischen Symbol eines wohlgenährten deutschen Bundesadlers?

Hinweise: Matthew L. M. Fletcher: "Anishinaabe Law and The Round House" erscheint in der Albany Government Law Review, Vol. 10, 2017. Louise Endrich: "Das Haus des Windes", Berlin (Aufbau-Verlag) 2016, 384 Seiten, ISBN-13: 978-3746631509, 9,99 Euro.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Indianerrecht: Die rechtliche Dimension des "mino-bimaadziwin" . In: Legal Tribune Online, 07.05.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22833/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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