Das Phänomen Hochstapler: Vom schönen Schein und großen Scheinen

von Arne Koltermann

09.06.2012

Sie haben etwas Glamouröses an sich, sie sind geldgierig oder bloß geltungssüchtig. Hochstapler faszinieren seit jeher. Dabei treffen sie ihre Opfer, die sich irrtümlich selbst schädigen, viel mehr als nur materiell. Arne Koltermann über ein Phänomen, das im 21. Jahrhundert gern auch mal in Form des Vorspiegelns von Doktortiteln auftritt.

Aus Gesetzen hat sich Wilhelm Voigt nie besonders viel gemacht: Schon als Jugendlicher wurde der aus Tilsit stammende Schuhmacher wegen Diebstahls verurteilt, später beging er mehrere Urkundenfälschungen und zog 1906 nach Berlin. Dort fand er zunächst Arbeit, die er jedoch bald verlor, da er nicht über eine Aufenthaltserlaubnis verfügte.

Bald kam ihm eine Idee: Er kaufte sich bei diversen Trödlern Militärkleidung zusammen, erstellte sich daraus die Uniform eines Hauptmanns des "preußischen ersten Regiments zu Fuß" und hielt im Berliner Westen zwei Trupps mit Gardesoldaten an. "Auf allerhöchsten Befehl" fuhr er mit ihnen in Ermangelung eines Kraftwagens per Stadtbahn nach Köpenick, gab allen ein Bier aus und verkündete, er werde den Bürgermeister "und vielleicht noch andere Herren" verhaften – so geschah es. Mitsamt seinem Trupp besetzte Voigt das Rathaus und brachte, unter dem Vorwand einer Beschlagnahme, den Barbestand der Stadtkasse Köpenick in Höhe von 3557,45 Mark an sich. Schließlich türmte er, wurde aber bald durch den Verrat eines eingeweihten ehemaligen Zellengefährten verhaftet – und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Bereits zwei Jahre später vom Kaiser begnadigt, brachte es der selbsternannte "Hauptmann von Köpenick" durch Carl Zuckmayers Bühnenstück über die Berliner Stadtgrenzen hinaus zu einiger Berühmtheit. Nicht nur bereicherte er die deutsche Sprache um das schöne Wort Köpenickiade, neben Figuren wie Thomas Manns Felix Krull wurde er zudem zum Prototyp des Hochstaplers.

Der als ein Vornehmer bettelt

Allein das Wort erscheint so schön plastisch: Hochstapler, das lässt an einen Menschen denken, der ein sprichwörtliches Lügengebäude errichtet. Irgendwann hat er so viele Unwahrheiten aufgetürmt, dass sein Werk jede Minute einzustürzen droht - doch der erste Anschein führt in die Irre.

Stapeln bedeutet in diesem Zusammenhang betteln und leitet sich aus dem Rotwelschen ab, einem schon aus dem dreizehnten Jahrhundert überlieferten Soziolekt der kriminellen Subkultur, einem Gangsterslang. Das Wort hoch bezieht sich auf den sozialen Rang, und so ist ein Hochstapler der Etymologie nach jemand, der als ein Vornehmer bettelt.

Nach unserem heutigen Verständnis wird dieser Bettelvorgang vom Hochstapler verschleiert, muss er doch vor allem eine Kulturtechnik im Schlaf beherrschen: er muss lügen können. Bewusst die Unwahrheit zu sagen, mag man als unehrenhaft und anrüchig empfinden - eben als etwas, das sich nicht gehört. Strafbar ist eine Lüge aber nicht, jedenfalls nicht ohne Weiteres. Doch täuscht der Lügner auf einem zum Beweis geeigneten Schriftstück über seine Identität, kann es sich um Urkundenfälschung handeln. Gibt er sich wahrheitswidrig als Hauptmann oder Arzt aus, kommen Amtsanmaßung oder Missbrauch von Titeln in Betracht. Wer schließlich einen anderen unter falschen Angaben zu einer Vermögensverfügung bewegt, ist ein Betrüger.

Harksen: "Ich hätte bei mir niemals Geld angelegt"

Der Hochstapler, von dem hier die Rede sein soll, ist entweder geltungssüchtig oder geldgierig, doch natürlich gibt es auch hybride Charaktere: Menschen, die das vornehme Leben schätzen und dazugehören wollen zu einer Welt, die ihnen sonst verschlossen wäre. Sie sind extrovertierte, redegewandte Personen, die andere mit bloßen Worten um den Finger wickeln können.

Es ist eine ganz eigene Faszination, die von diesen Tätern ausgeht. Zu verbinden scheint sie ihre schiere Persönlichkeit, eine Art angeborenes Charisma. Sie wirken selbstsicher und sind deutlich intelligenter als der durchschnittliche Straftäter. Oft sind es narzisstische Persönlichkeiten, die trotz vermeintlicher Selbstbezogenheit nicht über eine eigenständige Persönlichkeit verfügen – jegliche Konfrontation, die sie selbst in Frage stellen könnte, vermeiden sie tunlichst.

"Ich hätte bei mir niemals Geld angelegt - die Geschichten, die ich erzählt habe, waren doch niemals plausibel", erklärte Jürgen Harksen, der in den späten Achtziger- und Neunzigerjahren ausschließlich mittels eines Schneeballsystems über 150 Millionen Euro erlangte, in einem Interview. Er bot den Anlegern seines erfundenen Investmentunternehmens Renditen bis zu 1.300 Prozent, bis er aufflog und nach einer zwischenzeitlichen Flucht nach Südafrika im Jahr 2003 verurteilt wurde. Zur Entschuldigung gab er an, er habe ausschließlich Millionäre betrogen. Er gefiel sich in der Rolle eines modernen Robin Hood.

Der Chefarzt, der bloß Postbote war

Besonders schillernd war auch der Fall des Gert Postel, einem gelernten Postbote, der als Chefarzt  Dr. Dr. Clemens Bartholdy zwei Jahre in einer sächsischen Psychiatrie tätig war. Nach eigener Einlassung wollte er damit die Fragwürdigkeit psychiatrischen Einrichtungen entlarven. Auch er berief sich also nach seiner Enttarnung auf eine Art höhere Mission. Postel geriert sich als Aufklärer: Wenn Postboten als Psychiater durchgehen, sagt das über diese Berufsgruppe scheinbar alles aus – und so hat es der falsche Arzt zum Idol der Antipsychiatriebewegung gebracht. Wer seinen Namen bei Google eingibt, erhält als ersten Treffer den Auftritt eines Fanclubs.

Der Bewerbungsvortrag, mit dem Gert Postel sich einst als Psychiater bewarb, trug den Titel: "Die pseudologia phantastica – die Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung – aus der psychoanalytischen Diagnostik am literarischen Beispiel der Figur des Felix Krull". Dass er selbst ein Pseudologe war, verschwieg der Postbote freilich.

Wenig schillernd: Das Selbstschädigungsdelikt Betrug und seine Opfer

Aktuell denkt man bei Hochstaplern fast nur noch an Finanzbetrüger wie Bernard Madoff, den ehemaligen Vorsitzenden der Technologiebörse Nasdaq. Er brachte Anleger um geschätzte 65 Milliarden Dollar. Von Patricia Highsmiths Romanfigur Tom Ripley oder einem Felix Krull unterscheidet ihn, dass er sich bei seinen Taten keines Aliasnamens bedienen musste. Als hohes Mitglied der Gesellschaft galt er schließlich als seriös. Da viele Pensionsfonds Geld bei ihm anlegten, wurden zahlreiche Menschen um ihre gesamte Altersvorsorge gebracht.

Als der Betrug aufflog und der Verlust des Geldes Gewissheit war, kam es zu zahlreichen Selbstmorden. Juristisch sind dies eigenverantwortliche Entschlüsse, die dem Betrüger nicht zugerechnet werden können. Gleichwohl zeigen diese Fälle, dass auch sie Existenzen auslöschen können.

Im Gegensatz zu anderen Opfern von Vermögensdelikten wie Bestohlenen  leistet der Betrogene, der einem  Hochstapler aufsitzt, aber einen aktiven eigenen Beitrag. Ein Selbstschädigungsdelikt, wie es die Strafrechtswissenschaft ausdrückt – während ein Beraubter schlicht überwältigt wird, gehören zum Betrug Täuschender und Getäuschter. Es zugelassen zu haben, sich hinters Licht führen zu lassen, ist vielen Betrugsopfern so peinlich, dass sie nicht einmal Anzeige erstatten.

Von Doktor-Hochstaplern, Karl May und einer Menge Phantasie

Auch Politiker, die sich Doktortitel erschwindelt haben, kann man durchaus als Hochstapler bezeichnen. Zum Schummeln trieb den vermögenden früheren Verteidigungsminister zu Guttenberg keine materielle Not, doch kam ihm ein solcher Titel wohl standesgemäß vor. Er trat zwar zurück, doch in der öffentlichen Wahrnehmung kam er mit der fragwürdigen Behauptung durch, er habe als treusorgender Familienvater über den ganzen komplizierten Fußnoten den Kopf verloren. Da das Verfassen einer Promotion für die meisten Menschen eine eher abstrakte Angelegenheit ist, dürfte die damalige Einschätzung der Bundeskanzlerin, sie habe schließlich keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt, auf offene Ohren gestoßen sein. Akademische Grundregeln wurden hier als verschrobene Prinzipien dargestellt, die bloß für graumäusige Intellektuelle im Elfenbeintürmchen von Bedeutung sind.

Als größter Aufschneider von allen darf aber immer noch Karl May gelten, und das gleich in zweifacher Hinsicht: Vor seiner Autorenkarriere gab sich der abgebrochene Lehramtsstudent als Augenarzt oder Sohn eines reichen Plantagenbesitzers von der Insel Martinique aus. Als äußerst produktiver Schriftsteller schließlich schrieb er Dutzende Bücher, die im Wilden Westen oder im Orient spielten - Orte, die er nur vom Hörensagen kannte.

Ein literarischer Betrüger war er trotzdem nicht, denn ein Autor fiktiver Werke spiegelt keine tatsächliche Wirklichkeit vor. Seine Wandlung vom Hochstapler zum Romancier beweist aber, dass ausufernde Phantasie und strafbares Verhalten einander nicht bedingen müssen.

Der Autor Arne Koltermann ist Volljurist und Assessor. Zusätzlich zu seiner juristischen Tätigkeit absolviert er ein Ergänzungsstudium im Bereich Film- und Theaterkritik an der Hochschule für Fernsehen und Film München.

Zitiervorschlag

Arne Koltermann, Das Phänomen Hochstapler: Vom schönen Schein und großen Scheinen . In: Legal Tribune Online, 09.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6349/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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