Grundrecht auf Mobilität: Was Karlsruhe nie auf die Straße ließ

von Martin Rath

29.04.2012

Um die Entdeckung neuer Grundrechte macht sich im Allgemeinen nur das Bundesverfassungsgericht verdient. Man denke an die "informationelle Selbstbestimmung". Vor zwanzig Jahren wurde auf professoraler Basis ein "Grundrecht auf Mobilität" entwickelt. Sein Prototyp steht seither in der Garage. Durch ein Kapitel Automobilrechtsgeschichte rast Martin Rath.

"Wie Krebsgeschwüre fressen Geschwindigkeitsbeschränkungen und 30-km-Zonen die Auto-Mobilität." – Es gibt Sätze, die würde heute kein Pressesprecher eines Automobilclubs in den Mund nehmen, jedenfalls solange die Mikrofone offen und Medienvertreter anwesend sind. Aufgeschrieben hat das scharfe Wort allerdings ein Jurist, Michael Ronellenfitsch, Professor für Öffentliches und Verwaltungsrecht in Tübingen, und zwar 1994 in der Zeitschrift "Deutsches Autorrecht" (DAR 1994, S. 7-13).

Die bösartige Krankheitsmetapher sollte ein Phänomen illustrieren, das Ronellenfitsch als Bedrohung eines von ihm forumulierten "Grundrechts auf (Auto-) Mobilität" ausgemacht hatte: Nach einem "Domino-Prinzip" würde zunächst "straßenverkehrsrechtlich eine Verkehrsbeschränkung auf einer konkreten Strecke damit begründet, daß dort statistisch die höchste Unfallziffer herrsche". Dies zöge eine Kette weiterer Geschwindigkeitsbeschränkungen nach sich, die erst  aufbreche, wenn die Beschränkungen dort beseitigt würden, "wo statistisch weniger passiert als im Durchschnitt".

Zwei Jahre zuvor: ein Grundrecht wird montiert

Ganz von ungefähr kam der aggressive Ton nicht. Zwei Jahre zuvor hatte Professor Ronellenfitsch in der "DAR" – diese Zeitschrift wird vom Verlag des ADAC herausgebracht – seinen Gedanken von der Mobilität als Grundrecht publiziert, was böse Anmerkungen in der Wochenzeitung "Die Zeit" und sogar in der "FAZ" nach sich zog.

Die Technik, ein neues Grundrecht zu montieren ist aus der Karlsruher Werkstatt bekannt. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Volkszählungsurteil von 1983 sanktioniert, ging auf professorale  Diskussionen in den 1970er-Jahren zurück. Im Jahr 2008 lief das komplizierte Modell "Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" vom Band. Eine Sensation.

Ausgangspunkt für diese Konstruktionen ist jeweils die Annahme, dass das Grundgesetz die einzelnen Grundrechte nicht abschließend regelt. Davon ging auch Ronellenfitsch aus. Er dekliniert in seinem rechtswissenschaftlichen Aufsatz (DAR 1992, S. 321-325) die klassischen Grundrechtsfunktionen für das Grundbedürfnis nach Mobilität durch. Elemente, die sich zu einem "Grundrecht auf Mobilität" verdichten lassen könnten, betrachtet er dabei zunächst in ihrer Funktionalität hergebrachter Normen, zum Beispiel der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG). Namentlich den Autofahrer sieht er in seinem Anspruch, sich ohne physischen Zwang seitens der Staatsgewalt fortzubewegen, nicht recht ernstgenommen: "Nicht nur der berüchtigte 'Hamburger Kessel' war ein Eingriff in dieses Grundrecht. Bei mehrstündigen Staus auf der Autobahn wird fraglich, ob das Ausfahren über verkehrssichere freie, aber nicht als Ausfahrten gekennzeichnete [...], Flächen überhaupt verboten werden kann. Auch ungerechtfertigte Warteschleifen im Flugzeug sind bedenklich."

Auch aus anderen hergebrachten Grundrechten zog Ronellenfitsch Elemente vor die Klammer, um sie zum neuen "Grundrecht auf Mobilität" zusammenzufassen, beispielsweise aus Art. 11 Abs. 1 GG, eine Norm, die nach seiner Auffassung bisher vernachlässigt worden sei: "So soll die Einrichtung von Parkscheibenzonen die Freizügigkeit nicht verletzen. Das ist trivial. Aber wie verhält es sich mit Verkehrsbeschränkungen, die die Anfahrt eines Möbeltransporters unmöglich machen?"

Mobilitätsgrundrecht für Missionare im Nachtpostflugzeug?

Auch in der Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit entdeckte Ronellenfitsch Mobilitätspotenziale, die in der hergebrachten Lehre zu Art. 4 Abs. 2 GG nicht recht ins Auge sprangen: "Auch Missionare und Glaubensbewerber jeglicher Colleurs sind auf Mobilität angewiesen." Neben polizeilichen Kontrollen, die die Anreise zu Demonstrationen behindern, stecke überhaupt in Mobilitätsbeschränkungen ein Hindernis für den flüssigen Austausch der Meinungen und Gedanken, darum hält er fest: "Auch die Befreiung der Postflüge von Nachtflugverboten gehört in diesen Sachzusammenhang."

Gegen Ronellenfitschs Überlegungen polemisierte im Frühjahr 1993 sein Berliner Kollege Uwe Wesel im Organ der zeitlebens um die moralische Verbesserung Deutschlands verdienten Marion Gräfin Dönhoff, also in der Wochenzeitung "Die Zeit": Die vom Autoverkehr, insbesondere durch überhöhte Geschwindigkeit verursachten Personenschäden ließen Wesel  eher an eine "Verfassungswidrigkeit unserer Autos"  denken. Schutzpflichten für Leben und Gesundheit, wie sie das BVerfG spätestens im "Abtreibungsurteil" vom 25. Februar 1975 (Az. 1 BvF 1/74 u.a.) formuliert hatte, gäben der Staatsgewalt auf, für eine Entschleunigung der Mobilität zu sorgen. Am Ende seiner Kollegenkritik wird Wesel ein wenig unfein: Dass Bundesregierung und Bundestag das Tempo auf deutschen Straßen nicht limitierten und damit Menschenleben opferten, sei ihnen nicht nur moralisch zuzurechnen. Seinerzeit ließ sich Erich Honecker mit ähnlichen Kausalitätsargumenten in seinem Strafprozess wegen der Tötungen an der innerdeutschen Grenze verteidigen.

Schade, dass es so wenig Ronellenfitschiaden gibt

Nicht nur Frau Dönhoff dürfte über Wesel die Nase gekräuselt haben. Aber von den Straßenlärmgeplagten, von leibhaftigen  Verkehrsgeschädigten ganz zu schweigen, wird Wesel bis heute immer wieder gerne zitiert. Anders als Michael Ronellenfitschs streitbarer Aufsatz in der Verkehrsrechtszeitschrift des ADAC.

Eigentlich ist es schade, dass sich die deutsche Rechtswissenschaft so selten an 'Ronellenfitschiaden' übt: Man entnehme der dogmatisch verfestigen Grundrechtsinterpretation wesentliche Bauteile, beispielsweise die Mobilitätsaspekte der Freiheit der Person (Art. 2 GG), der Glaubensfreiheit (Art. 4 GG) oder der Freizügigkeit (Art. 11 GG), und füge sie zu einem neuen, noch nicht in der Verfassungsurkunde oder einer Karlsruher Entscheidung positivierten Rechtssatz zusammen. In seinen beiden Aufsätzen zum "Grundrecht auf Mobilität" hat auch Ronellenfitsch leider keinen Norm-Vorschlag gemacht. Über die Qualität des folgenden lässt sich streiten: "Jeder (Deutsche) hat das Recht, im Bundesgebiet umherzufahren."

Weil man sich darüber streiten kann, ist es schade, dass man derlei selten liest. Anfang der 1990er-Jahre war das anders. Die DDR war unlängst zusammengebrochen. Der Gedanke an eine neue, gesamtdeutsche Verfassung war noch nicht völlig begraben. Fast abwegig erscheint es heute, dass ein "Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder" 1991 einen Verfassungsentwurf vorlegte.  Ein Entwurf, in dem sich – der Nomenklatur des Grundgesetzes folgend – beispielsweise ein neuer Art. 2 Abs. 3 GG fand: "Jeder Mensch hat das Recht, in Staat und Gesellschaft seine Belange durch demokratische Teilhabe zu wahren."

Für rechtswissenschaftlich denkende Juristen, nicht zuletzt für tausende Jurastudenten, die das vernünftige Streiten erst lernen sollen, sollte es eine helle Freude sein, vorgeschlagene Normen zu einem "Grundrecht auf Mobilität" oder einem "Grundrecht auf demokratische Teilhabe" durchzuspielen, ihre Auswirkungen auf die hergebrachte Dogmatik und Rechtsprechung zu diskutieren.

Unterhaltsamer als der gewöhnliche Repetitoriumsstoff dürfte das allemale sein.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln. Als Großstadtbewohner mit einem Kfz im Jahr 2012 bisher zurückgelegte Kilometer: circa zehn.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Grundrecht auf Mobilität: Was Karlsruhe nie auf die Straße ließ . In: Legal Tribune Online, 29.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6097/ (abgerufen am: 18.04.2024 )

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