Fachliteratur jenseits der Kommentare: Methoden (für erwachsene Juristen und solche, die es werden wollen)

von Martin Rath

09.09.2012

Es könnte eines jener Lehrbücher sein, die den Weg zum Prädikatsexamen ebnen, ohne "examensrelevant" zu sein – denn es macht souverän. Für alle anderen bietet die "Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner" einen beherzten Blick auf ein Rechtsdenken, das nicht die Erweiterung von Kindergartenzank mit rhetorischen Waffen ist. Eine Literaturschwärmerei von Martin Rath.

Ein bekannter Strafverteidiger und spätberufener Professor sprach dem Verfasser einmal "off the records" aufs Tonband, dass ihn der Strafprozess mit all seinen Beteiligten – vom Angeklagten über alle involvierten Juristen, vom rachsüchtigen Publikum ganz zu schweigen – an einen großen latent zanksüchtigen Kindergarten erinnere, der nur mühsam durch Methode, Formalismus und – im besten Fall – auch durch emotionale Distanz und Sachlichkeit gebändigt werde.

In der sogenannten "Beschneidungsdebatte" wurde das böse Wort des Strafverteidigers in den vergangenen Wochen recht plastisch. Die methodische Schlichtheit, mit der selbst Juristen ihre mitunter einfältigen Subsumtionsergebnisse als unverrückbare Wahrheit in die Welt hinausposaunten, beunruhigte in ihrem Verlauf weit mehr als der Umstand, dass hier Menschen aggressiv einer anderen Meinung waren – was für sich genommen ja schon unangenehm genug ist. Methoden und Auslegungsgeschichte wurden in dieser Debatte selten reflektiert, vielleicht weil es an Universitäten und Examensrepetitiorien nicht auf der Tagesordnung steht.

Zivilrechtler haben es besser

Das Zivilrecht ist, was "billable hours" und "Examensrelevanz" angeht, bekanntlich doppelt und, was die Fachliteratur betrifft, seit diesem Jahr gleich dreifach bessergestellt als die strafrechtliche Abteilung. Denn mit der "Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner" liegt nun eine historische Reflexion zivilrechtlicher Standpunkte der vergangenen 200 Jahre vor, die jeden reizen muss, der sich mit dem juristischen Alltagsgeschäft der schlichten Subsumtion nach Maßgabe von "Palandt", "h.M."  oder "Verfassungsgerichtspositivismus" nicht abfinden will – oder als Insasse einer juristischen Fakultät nicht zufriedengeben darf.

Das Buch, herausgegeben vom Frankfurter Emeritus Joachim Rückert und seinem früheren Projektmitarbeiter Ralf Seinecke, erzählt – wann bietet ein juristisches Fachbuch schon einmal "Erzählungen" – beispielhaft von sechzehn Großjuristen des deutschen Zivilrechts seit Friedrich Carl von Savigny (1779-1861), wobei der Schwerpunkt der Darstellung nicht auf die biografischen Details gelegt wird, was im juristischen Schrifttum oft von einer etwas gallertartigen Höflichkeit ist, sondern auf ihren Standpunkt in der zivilrechtlichen Methodik der jeweiligen Epoche.

Eingerahmt werden diese "Methodenerzählungen" von einer didaktischen Einleitung zur Funktion juristischer Methode und kurzen Aufsätzen zur ökonomischen Analyse des Recht, der institionenökonomischen Kritik und zum angelsächsischen Fallrecht – drei Perspektiven, die sich nicht mit Personen verknüpfen lassen, aber für die Suche nach einem Standpunkt im Zivilrecht der Gegenwart unverzichtbar sind.

Zwölf Regeln für zynismusfreie, aber nicht witzlose Methodik

Nicht frei von Witz stellen Rückert und Seinecke der didaktischen Einleitung zwölf Regeln voran, die "Methodenlehre mit praktischem Anspruch" leisten möchten: "Sie sollen helfen bei Auslegung, Anwendung und Fortbildung des geltenden Rechts, an das sie gebunden sind." Die zwölf Gebote lauten:

"I. Mach Dir klar, was Du tun willst
II. Behandle Methodenfragen als Verfassungsfragen
III. Methodengeschichten muss man kennen und nutzen
IV. Nimm die canones als Anleitung
V. Hör auf den Wortlaut
VI. Schau ins System
VII. Schlag nach beim Gesetzgeber
VIII. Obacht mit dem Telos
IX. Trenne Auslegung und Rechtsfortbildung und Abwägung
X. Bilde Recht nur rechtsstaatlich fort
XI. Manchmal muss man abwägen
XII. Vergiss nicht die Gerechtigkeit"

Das ist witzig formuliert, will sich aber von einer "letztlich zynische(n) Abfertigung von Methodenregeln" abgrenzen, die Rückert/Seinecke mit einer spöttischen Äußerung von Gustav Radbruch belegen. Der berühmte Rechtspolitiker und -philosoph ließ wissen: "Die Auslegung ist das Ergebnis – ihres Ergebnisses, das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht." Für die juristische Argumentation beanspruchen Rückert/Seinecke, der saloppen Formulierung zum Trotz: "Es folgt nicht jeder Fall seiner eigenen Methode und damit keiner. Nicht jede Entscheidung erschöpft sich im unkontrollierbaren Wertungsakt, also einer Dezision. Methodenlehre muss ernst genommen werden, denn es geht um rationale Arbeit mit dem geltenden Recht."

Sechzehn Juristen für die ernsthafte Methodenkritik

Die "Methodenerzählungen" stellen 16 Juristen biografisch vor und verknüpfen die zivilrechtliche Methode mit den politischen Zeitumständen, was heutige Rechtsanwender sensibel machen sollte.

Neben ausgewiesenen Theoretikern wie Karl Larenz (1903-1993) oder Josef Esser (1910-1999) und Hans Carl Nipperdey (1895-1968), dem wohl singulären "Richterkönig" des 20. Jahrhunderts, werden in Deutschland weltberühmte Dogmatiker wie Bernhard Windscheid (1817-1892) und Claus-Wilhelm Canaris (geb. 1937) in ihrer Methodik vorgestellt – und diese in je einem dogmatischen Fallbeispiel auf ihre Validität geprüft.

Weil sie sich als eine "Methodenlehre für die praktische Wissenschaft" verstand, soll die "Interessenjurisprudenz" mit Philipp Heck (1858-1943) herausgegriffen werden. Weil dieser Lehre nach die Gesetzesnormen "auf Interessabwägungen beruhen, muss der Richter im Anschluss [an die 'grammatische Interpretation', MR] über die Begriffe hinaus und mit ihrer Hilfe zu den im Gesetz angeschauten Interessenlagen, den gesetzlichen Werturteilen und Wertideen vordringen ('Konfliktschau')". Das beinhaltet auch, die der Norm entgegengesetzten Interessen zu betrachten. "Nur so könne es gelingen, das zugrundeliegende Werturteil zu erkennen und die Schutzwürdigkeit des eigenen Interesses gegenüber dem anderen zu erkennen."

Aus der richterlichen Analyse der Interessensabwägung durch den Gesetzgeber folgen bei Heck Freiräume für die gerichtliche Entscheidung. Im Normalfall genügt zwar die logische Subsumtion, die Interessensbekundung des Gesetzgebers schwingt dabei gleichsam stillschweigend mit, bei Gesetzeslücken aber erlaubt die Interessensanalyse dem Gericht sogar  Entscheidungen contra legem.

Illustriert wird diese – hier grobschlächtig skizzierte Methode – an Philipp Hecks Haltung zu den Währungsgesetzen von 1914 und dem berühmten Aufwertungsurteil des Reichsgerichts von 1923, das den Grundsatz "Mark ist gleich Mark" aufgab. Heck untersuchte die Interessenlagen der Hypothekengläubiger, deren in Goldmark begründete Forderungen durch die Papiergeldinflation entwertet wurden. Mit in der Interessensanalyse standen die Kriegsziele der Reichsleitung im Ersten Weltkrieg, das allgemeine Interesse an Währungsstabilität und anderes mehr. Heck kritisierte die Reichsgerichtsentscheidung letztlich, weil sie die Lücke im Währungsgesetz überspannte.

Methodenrelevanz in der Gegenwart

Diese spannende Prüfung von Methode am Dogma leistet der Band gleich 16 Mal. Für den ungekrönten König des deutschen Arbeitsrechts, den ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts (BAG) Hans Carl Nipperdey rekonstruiert der vorliegende Band beispielsweise, "dass es Nipperdey … um eine anhand objektiv-teleologischer Gesichtspunkte durchzuführende Ermittlung des Willens eines fiktiven, aktuellen und vernünftigen Gesetzgebers ging. Die Ermittlung des historischen Gesetzgeberwillens bildete dafür einen Ausgangspunkt, keinesfalls jedoch den alleinigen Maßstab."

Überprüft wird der lebenslang verfochtene methodische Maßstab nicht an den berühmt-berüchtigten Entscheidungen aus den Gründerjahren des BAG, sondern an Nipperdeys Haltung zum Kontrahierungszwang. Diesen leitete er noch zu Zeiten der Weimarer Republik, von spezialgesetzlichen Vorschriften abgesehen, aus § 826 BGB her, dem Verbot der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. In der Bundesrepublik verstand er die Grundrechte als "sonstiges Recht" bzw. als Schutzgesetze nach § 823 I und II BGB, um entgegen § 253 BGB alter Fassung auch immaterielle Schäden für ersatzfähig zu erklären.

Dass es mit der rechtstaatlichen Fortbildung des Rechts – dem zehnten Gebot von Rückert et al. – vor allem im 20. Jahrhundert nicht zum Besten stand, ist zwar eine rechtshistorische Binsenweisheit, wird in den Fallstudien aber erst so plastisch, dass sie die Neugier heutige Rechtsentwicklungen und das gegenwärtige Verhältnis von Justizapparat und demokratischem Gesetzgeber lenkt.

Rückert erinnert immer wieder daran, dass die großen Juristen des 19. Jahrhunderts  mit ihrer methodischen Eingrenzung der richterlichen Auslegungsbefugnisse einen Justizapparat vor Augen hatten, der zutiefst abhängig war von der Organisationshoheit blaublütiger Landesherren, während der Reichstag in Berlin eine europaweit einmalig demokratische Einrichtung bildete.

Wegen ihres "Formalismus" oder ihrer "Begriffsjurisprudenz", die solche Eingrenzungen bewirkten, wurden sie ein Jahrhundert lang von nachgeborenen Juristen beschimpft.

Nicht nur, weil die Formalisten wohl die besseren Demokraten waren und in diesem Buch rehabilitiert werden, lohnt sich die Lektüre. Wem Methodik mehr sein will als ein Prüfungsschema, erfährt hier viel von Souveränität im Umgang mit dem juristischen Stoff.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Joachim Rückert und Ralf Seinecke (Hg.): "Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner", Baden-Baden (Nomos) 2012, 600 Seiten 34 Euro

Zitiervorschlag

Martin Rath, Fachliteratur jenseits der Kommentare: Methoden (für erwachsene Juristen und solche, die es werden wollen) . In: Legal Tribune Online, 09.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7026/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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