Die DDR zwischen Unrechts- und Rechtsstaat: Auf den Hund gekommen

von Jochen Barte

03.10.2012

Am dritten Oktober feiern wir die Wiedervereinigung Deutschlands. Grund genug einen Blick zurückzuwerfen, auf das, was davor war. Jochen Barte stößt dabei auf einen Hund, der zum Klassenfeind geriet und tags darauf in einer Grube heißer Glut endete. Auch von Lothar de Maizière soll die Rede sein und dem Nachspüren feinsinniger, semantischer Konnotationen.

Es war in einer düsteren Oktobernacht des Jahres 1953, als der SED-Parteigenosse Fritz Ramm auf dem Werksgelände des VEB-Mühlhausen in Thüringen eine verdächtige Beobachtung machte. Nicht dass dies ungewöhnlich gewesen wäre. Mühlhausen galt schon seit längerem als aufrührerisches Zentrum in dem eine Konzentration feindlicher Kräfte vermutet wurde.
So waren im Sommer mehr als tausend Bauern aus dem Umkreis in einem Sternmarsch in die Stadt gefahren und hatten sich mit der dortigen Bevölkerung solidarisch erklärt. Ihre Forderung: Freilassung politischer Gefangener und Rücktritt der Regierung – eine Ungeheuerlichkeit hinter der natürlich nur der Klassenfeind aus dem Westen stecken konnte.

Klappe zu, Klassenfeind tot

Ramm war also gewarnt und als Betriebsschutzleiter gelang es ihm auch sogleich den Missetäter dingfest zu machen. Es war ein Hund – und zwar einer mit einer mutmaßlich klassenfeindlichen Gesinnung. Denn, so führte es später das Oberste Gericht der DDR in seiner Urteilsbegründung aus, es gehöre zur Taktik des Klassenfeindes fremde Tiere einzusetzen, um klassentreue Hunde in ihrer Wachsamkeit zu täuschen.

Da der Hund sich nicht durch eine Marke ausweisen konnte und auch keinen Parteiausweis mit sich führte, blieb Ramm nur eine Wahl: Er schritt sofort zur Liquidierung des Feindes und gab anschließend Anweisung, das Tier in einen Ofen zu werfen. Aber Ramm hatte zunächst Pech. Die defätistischen Kollegen kamen seiner Forderung nicht nach und als Ramm am nächsten Morgen bemerkte, dass der Hund noch lebte, warf er ihn eigenhändig in eine Grube mit heißer Glut. Klappe zu, Klassenfeind tot.

Damit hätte nun alles sein Bewenden haben können und es hätte wieder Frieden im Paradies der Werktätigen einkehren können. Aber die undankbaren Mühlhausener – offenbar noch weit zurück in ihrer Entwicklung hin zu neuen sozialistischen Menschen – reagierten ganz anders: Sie enthoben Ramm seiner Funktion als Betriebsschutzleiter, schlossen ihn aus der Partei aus und strengten ein Strafverfahren wegen Tierquälerei an.

Ein Beispiel fehlgeleiteter politischer Justiz

Damit nahm der Fall eine pikante Wendung und Ramm wurde tatsächlich verurteilt. Verkehrte Welt? Der verdiente Lohn für einen Helden der Arbeit? Nein, natürlich nicht. Die Parteiführung schritt umgehend ein. Gegen den Richter wurde Haftbefehl erlassen und Ramm wurde durch Urteil des Obersten Gerichts letztlich exkulpiert und wieder als Parteifunktionär eingesetzt.

Der Fall hatte Kreise gezogen. Besonders der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seinen Parteigenossen den Fall als ein übles Beispiel fehlgeleiteter politischer Justiz unter die Nase zu reiben.

Aus Ulbrichts Sicht logisch. Und sonst: Eine banale, bizarre Posse aus den Anfängen des Arbeiter- und Bauernstaats – oder doch mehr? Ein exemplarisches Beispiel für die fehlende Rechtsstaatlichkeit der ehemaligen DDR? Je nach politischer Couleur und Vergangenheit wird die Antwort unterschiedlich ausfallen, zumal die Debatte an sich so neu nicht ist. Und was wäre wohl passiert, hätte der arme Hund vor seinem Ableben noch das Ernst Thälmann Lied gebellt?

Einen vollkommenen Rechtsstaat gibt es nirgendwo

Er wäre sicher begnadigt worden. Ganz im Geiste von Revisionisten wie Lothar de Maizière. Der letzte Ministerpräsident der DDR sagte im August 2010 anlässlich des 20. Jahrestages des Volkskammer-Beschlusses zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gegenüber der „Neuen Passauer Presse“, dass die DDR zwar kein vollkommener Rechtsstaat gewesen sei, aber auch kein Unrechtsstaat. Auch in der DDR sei Diebstahl Diebstahl gewesen und überhaupt sei die Mehrzahl aller juristischen Verfahren nach rechtsstaatlichen Kriterien abgewickelt worden.

Das ist korrekt und lässt sich mit Zahlen belegen. Aber man muss dennoch fragen, ob eine solche synthetische Differenzierung nicht komplett an der Sache vorbeigeht. Da es einen vollkommenen Rechtsstaat augenscheinlich nirgendwo auf der Welt gibt, wäre damit schon jedes beliebige System, das seinen Bürgern ermöglicht, in regressiver intellektueller Bewusstlosigkeit vor sich hinzudämmern, irgendwie ein Rechtsstaat. Frei nach dem Motto: Wer den Staat nicht stört, der wird auch nicht gestört. Und für das Versetzen von Maschendrahtzäunen gibt’s verbindliche Regeln für alle.

An dieser Stelle ist es hilfreich sich noch einmal die andere Seite der Medaille ins Gedächtnis zu rufen. Seit der Gründung der DDR bis 1982 wurden 231 Menschen zum Tode verurteilt. Insgesamt wurden ca. 200.000 Menschen aus politischen Gründen zu Haftstrafen verurteilt. Etwa 1.000 Menschen kostete der versuchte Grenzübertritt in den Westen das Leben. Weitere 70.000 DDR-Bürger wurden auf der Flucht gestellt und meist zu Freiheitsstrafen verurteilt. Für politisch Verfolgte gab es keinen Vorbehalt des Gesetzes, keine Grundrechte und keine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Ultima Ratio war – wie der Ausgangsfall illustriert – das Weisungsrecht der Partei, das sich auch an die Justiz richtete. Bereits 1950 wurden 86 Prozent der Richter und Staatsanwälte von der SED gestellt.

Willkür und absolute Humorlosigkeit

Sollte man deshalb nun tatsächlich von einem halbierten Rechtsstaat sprechen? Oder den Unrechtscharakter des Systems verneinen, weil sich das Staatskonzept im Grunde auf die Ideen der Aufklärung, zumal auf den Deutschen Idealismus und in der Folge auf Marx zurückführen ließ? Die Frage ist meist der Beginn einer fachwissenschaftlichen Diskussion um die korrekten Begrifflichkeiten, die häufig mit einem Vergleich zum NS-Regime endet und nicht selten Gefahr läuft, sich zu Tode zu differenzieren.

Aber warum kompliziert, wenn es auch einfacher geht. Man muss nicht erst Kants Rechtslehre bemühen oder feinsinnigen, semantischen Konnotationen nachspüren, um festzustellen: Die DDR war eine klassische Diktatur, in der Willkür herrschte, und damit denknotwendig ein Unrechtsstaat. Die Herrschaft stand einer elitären Gruppe zu. Eine demokratisch legitimierte Kontrolle fand nicht statt. Entsprechende Bestrebungen wurden regelmäßig mit Gewalt unterbunden.

Deutlicher geht es kaum. Und noch etwas ist ein typisches Merkmal von Diktaturen: absolute Humorlosigkeit gepaart mit intellektuellem und ästhetischem Biedersinn. Davon gab es in der DDR ein Übermaß. Wer dächte da nicht sofort an die Legionen von schlecht gekleideten Blockwarten und Stasi-Spitzeln, die eifrig bestrebt waren, ihre parteipolitischen Fleißkärtchen auszufüllen und sich stolz an die Brust schlugen, wenn sie mal wieder einen Hund mit klassenfeindlicher Gesinnung zur Strecke gebracht hatten.

Zitiervorschlag

Jochen Barte, Die DDR zwischen Unrechts- und Rechtsstaat: Auf den Hund gekommen . In: Legal Tribune Online, 03.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7231/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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