Das Grundgesetz hat Geburtstag: Von der Dauerhaftigkeit eines Provisoriums

von n.N.

23.05.2010

Am 23. Mai 1949 feiert das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Geburtstag. Das Jahr 2009 war vom Gedenken an den 60. Jahrestag dieses markanten Ereignisses geprägt – und von 20 Jahren friedlicher Revolution im Osten Deutschlands. Auch ein Jahr nach dem Abklingen der offiziellen Feierlichkeiten lohnt sich am 61-jährigen Geburtstag noch ein Blick auf seine Entstehungsgeschichte.

Das politische und gesellschaftliche Schicksal Deutschlands stand in groben Zügen lange vor der militärischen Bezwingung der Nazi-Diktatur fest. Zwar spekulierten der amerikanische Präsident Roosevelt, der englische Premierminister Churchill und Russlands Diktator Stalin 1943 in Teheran und im Februar 1945 in Jalta noch, ob Deutschland am besten zu zerstückeln, zu isolieren oder als Einheitsstaat zu erhalten sei. Am gemeinsamen Ziel, Deutschland vollständig zu entwaffnen, die Kriegsverbrecher zu bestrafen und Reparationen in Form von Geld- und Sachlieferungen zu fordern, bestand indes kein Zweifel.

Am 7. und 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht gegenüber Amerikanern und Russen bedingungslos. Die noch von Hitler eingesetzte Regierung des Großadmirals Dönitz wurde abgesetzt und verhaftet. Diese "Stunde null" war gekennzeichnet von den überaus beträchtlichen Folgen des Krieges (55 Millionen Tote, 35 Millionen Verwundete, 3 Millionen Vermisste, 12 Millionen Heimatvertriebene, eine fast komplett zerstörte Infrastruktur) Unverzüglich übernahmen die Oberbefehlshaber der vier Besatzungszonen, General Eisenhower (später General Clay), Marshall Shukow, Feldmarschall Montgomery und General Koenig, die Regierungsgewalt, die formal ein Alliierter Kontrollrat ausübte. Das besetzte und in vier Sektoren aufgeteilte Groß-Berlin wurde fortan von einer Alliierten Kommandantur verwaltet.

Im Juli und August 1945 versuchte die frühere Anti-Hitler-Koalition, bestehend aus dem neuen amerikanischen Präsidenten Truman, Stalin und Churchill, auf der Konferenz von Potsdam ihre gemeinsame Deutschlandpolitik abzuschließen. Bis zu einer Friedensregelung sollten das besiegte Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt, der Sonderstatus für Berlin erhalten und die Gebiete um Königsberg und östlich der Oder-Neisse-Linie unter sowjetische beziehungsweise polnische Verwaltung gestellt bleiben.

Das besiegte Deutschland wird neu geordnet – Vorzeichen der Teilung

Dass den Besatzungsmächten ein einheitliches Konzept für die Behandlung Deutschlands fehlte, erwies sich von vornherein als trennender Faktor, der früh die Konturen der Teilung Deutschlands vorzeichnete. Ungehindert richteten die Sowjets in (Ost-)Berlin einen eigenen Magistrat ein, moskaugeschulte Kader wie die berüchtigte Gruppe Ulbricht begannen zu arbeiten und konnten – schon im Juni 1945 – über "antifaschistische" Parteien wie KPD, SPD, CDU und LDP kommunistischen Einfluss ausüben.

In der Phase von 1945 bis 1949 kam es zu einer flächendeckenden Entnazifizierung. Die maßgeblichen Kriegsverbrecher wurden in Nürnberg abgeurteilt, einige von ihnen am Strang hingerichtet, andere mit langjähriger Haft bestraft, wenige freigesprochen. Die deutschen Länder, die Hitler 1933 faktisch beseitig hatte, lebten bis 1946 wieder auf, demokratische Parteien bildeten sich - Keimzellen eines neuen demokratischen und föderativen Staates.

Auf der Pariser Außenministerkonferenz 1946 traten konträre Vorstellungen und unüberbrückbare Gegensätze zwischen den Westalliierten und den Russen zutage. Während die Amerikaner am föderativen Aufbau Deutschlands festhielten, favorisierten die Russen unter Molotow einen zentralistischen Einheitsstaat – "Demokratisierung" nach sowjetischem Vorbild. Ein Jahr später bekräftigten die Außenminister der Siegermächte auf einer Konferenz in Moskau ihre Grundauffassungen.

Die jeweiligen politischen Positionen mündeten in wirtschaftliche Schritte: Der amerikanische Außenminister Marshall legte ein Wiederaufbauprogramm auf, das eine funktionierende Weltwirtschaft zur Folge haben sollte. Wie nicht anders zu erwarten, reagierten die Sowjets ablehnend und richteten in ihrer Besatzungszone eine eigene "Deutsche Wirtschaftskommission" ein.

Westalliierte versus Russen

Auf der Londoner Außenministerkonferenz im selben Jahr verschärfte sich der Ton erneut. Molotow verstieg sich zu Äußerungen von einem neuen "imperialistischen Krieg" der USA und Großbritanniens gegen die Sowjetunion. US-Außenminister Marshall provozierte daraufhin den Abbruch der Konferenz. Die Westmächte mussten einsehen, dass eine gemeinsame Lösung mit den Russen zu ihren Bedingungen nicht zu erzielen war.

1948 akzeptierten die westlichen Siegermächte und die Benelux-Staaten auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz eine Weststaatslösung – Anlass für den russischen Militärgouverneur Sokolowski, den Alliierten Kontrollrat zu verlassen, der damit faktisch zu existieren aufhörte. Verärgert sperrten die Sowjets anschließend die Zufahrtswege nach Berlin und riegelten die Stadt komplett ab, als in den Westzonen im Juni die D-Mark eingeführt wurde. Die eingeschlossene Stadt wurde bis zum Mai 1949 über eine Luftbrücke versorgt, die der amerikanische Oberbefehlshaber General L. Clay veranlasst hatte. Faktisch war die Spaltung Berlins aber auch damit nicht mehr zu verhindern.

Der Ost-West-Gegensatz eskalierte: Die Londoner-Sechsmächte-Konferenz hatte die westdeutschen Ministerpräsidenten ermächtigt, eine "Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen. Als Reaktion hierauf trafen in Warschau unter Leitung der Sowjetunion acht osteuropäische Staaten zusammen; sie warfen dem Westen die Spaltung Deutschlands vor und bekräftigten die "Oder-Neisse-Friedensgrenze".

Die Bundesrepublik entsteht

Am 1. Juli 1948 überreichten die drei westlichen Militärgouverneure den deutschen Ministerpräsidenten in Frankfurt drei Schriftstücke. Bei diesen "Frankfurter Dokumenten" handelt es sich um die bedeutendsten Belege der staatlichen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. Die Ministerpräsidenten sollten bis zum 1. August 1948 eine Versammlung einberufen, eine Verfassung ausarbeiten und die Neuordnung der deutschen Länder weitertreiben.

Lebhafte Diskussionen in Bevölkerung und Politik waren die Folge. Die Dokumente stießen überwiegend auf Ablehnung - eine Zementierung der deutschen Spaltung schien ausweglos. Im Hotel Rittersturz in Koblenz entschieden sich die Ministerpräsidenten zunächst gegen eine verfassunggebende Versammlung. Vielmehr traten sie für einen "Parlamentarischen Rat" ein, der keine Verfassung, sondern ein "Grundgesetz" für die einheitliche Verwaltung des Besatzungsgebiets schaffen sollte. Die Westmächte zeigten sich enttäuscht, ja verärgert.

Erst auf einem weiteren Treffen in Schloss Niederwald bei Rüdesheim konnten die ursprünglichen Bedenken gegen einen Weststaat mit allen staatlichen Qualitäten überwunden werden. Der legendäre Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter fand die überzeugenden Worte ("Die Spaltung Deutschlands wird nicht geschaffen, sie ist bereits vorhanden"). Reuters Prämisse, eine Annahme der alliierten Offerte mache eine schrittweise Wiedergewinnung der deutschen Souveränität zunächst im Westen, dann aufgrund der von dort ausgehenden politischen und wirtschaftlichen Anziehung auch in der Sowjetischen Besatzungszone möglich ("Magnettheorie"), sollte sich als gleichermaßen realistisch wie prophetisch erweisen.

Zu der Frage, auf welcher Ebene ein "Grundgesetz" angenommen werden sollte, sahen die Ministerpräsidenten zwei Möglichkeiten: Während sie eine Volksabstimmung einhellig ablehnten – sie impliziere ein westdeutsches Staatsvolk und widerspreche der Einheit der Nation sowie dem staatlichen Selbstverständnis –, könne eine Befassung der Länderparlamente hingegen den provisorischen Charakter eines "Grundgesetzes" am ehesten verdeutlichen. Nach harten Verhandlungen lenkten die Alliierten ein und genehmigten den Vorschlag, das "Grundgesetz" von den Länderparlamenten annehmen zu lassen.

Das Grundgesetz wird geboren

Auf der beschaulichen Insel Herrenchiemsee tagte im August 1948 ein Ausschuss von Sachverständigen. Elf ehrwürdige, von ihren Regierungschefs entsandte Herren wälzten in sommerlicher Inselabgeschiedenheit zwei Wochen lang Verfassungsprobleme – unbehelligt von Medien, Fernsehen und E-Mails. Ob der republikanische Gedanke angesichts des dem Versailler Vorbild nachempfundenen Schlossbaus des bayerischen "Märchenkönigs" Ludwig II. besonderen Einfluss erlangte, kann dahinstehen. Jedenfalls schuf der Verfassungskonvent mit seinem Entwurf eine behelfsmäßige Arbeitsgrundlage, die sich als so belastbar erwies, dass sie nicht sofort wieder zusammenbrach.

Der Parlamentarische Rat, dessen Verhandlungen der Herrenchiemseer Entwurf tonangebend prägte, trat im September 1948 im Bonner Museum König zusammen. 65 von den Ländern gewählte Mitglieder (19 CDU, 8 CSU, 27 SPD, 5 FDP, je 2 von Zentrum, Deutsche Partei, KPD) wählten den Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (CDU) zu ihrem Präsidenten und seinen Gegenspieler Carlo Schmid (SPD) zum Vorsitzenden des einflussreichen Hauptausschusses.

Trotz teilweise scharfer Meinungsverschiedenheiten verständigte sich die Mehrheit des Rates auf eine detaillierte Verfassungsgrundlage für einen provisorischen westdeutschen Teilstaat. Es gelang, die Voraussetzungen eines funktionierenden und stabilen Staatswesens durch geeignete Instrumente innerhalb der Verfassung zu sichern, um jegliche Diktatur sowie einen Missbrauch demokratischer Freiheiten zu verhindern. Die Menschen- und Grundrechte erfuhren ihre unumstößliche Verankerung, ebenso die Prinzipien des sozialen Rechtsstaats und – als Gegenstück zum Staatstotalitarismus östlicher Prägung – des Föderalismus. Alle Deutschen sollten in einem demokratischen Rechts- und Parteienstaat mit Grundrechten, Gewaltenteilung und einer repräsentativen Volksvertretung frei handeln können – mit der Möglichkeit, über die Wiedervereinigung ihres gespaltenen Vaterlandes zu bestimmen.

Westalliierte Sonderbefugnisse, Ratifikation, der erste Präsident und Kanzler

Ein Besatzungsstatut behielt den Westalliierten Sonderbefugnisse auf wichtigen Gebieten vor. Die Besatzungsmächte prüften nicht nur Gesetzentwürfe, sie konnten die Regierungsgewalt "aus Sicherheitsgründen oder zur Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung in Deutschland" jederzeit an sich ziehen. Berlin durfte nicht "durch den Bund regiert" werden. Das Besatzungsstatut verlor in den Folgejahren durch die Integration der Bundesrepublik Deutschland in ein westliches Bündnissystem schrittweise an Bedeutung, bis der Deutschlandvertrag es im Mai 1952 weitgehend aufhob. Völlig außer Kraft trat es am 1. Oktober 1990.

Das Grundgesetz, das der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 in Bonn verabschiedet hatte, wurde anschließend von zehn der zwölf deutschen Länder ratifiziert. Berlin war nicht abstimmungsberechtigt, Bayern ging der Katalog der Grundrechte nicht weit genug. Mit der Unterzeichnung der Originalurkunde und der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. In mehreren Ländern trat das Grundgesetz erst später in Kraft: Im Saarland – nach dessen Beitritt zur Bundesrepublik – am 1. Januar 1957 und in den neuen Ländern am 3. Oktober 1990.

Nach den Wahlen zum 1. Deutschen Bundestag im August 1949 wurde im September Theodor Heuss (FDP) zum 1. Bundespräsidenten und Konrad Adenauer zum 1. Bundeskanzler einer aus CDU/CSU, FDP und DP gebildeten Koalitionsregierung gewählt.

Das Bedeutsame am Grundgesetz

Der Begriff "Grundgesetz" verstand sich als Notbehelf. Anstelle eines "westdeutschen" Staates sollte lediglich ein räumlich und zeitlich begrenztes Provisorium gegründet werden, dessen Vorläufigkeit ursprünglich bis zur Errichtung einer deutschen Bundesrepublik geplant war, die alle vier Besatzungszonen umfasste. Sein vorläufiger Charakter kam auch dadurch zum Ausdruck, dass das Grundgesetz nur den Ländern, nicht aber dem Volk zur Abstimmung vorgelegt worden war.

Das größte Verdienst der Väter und Mütter des Grundgesetzes liegt darin, dass sie aus den Unzulänglichkeiten der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wichtige Lehren zogen:

Zwar enthielt auch die Weimarer Verfassung Grundrechte, verstand sie aber eher rein programmatisch und weniger als unaufhebbare Grund- und Menschenrechte, die alle Staatsgewalten unmittelbar binden. Im Gegensatz zu dem vom Volk gewählten, mit enormer Machtfülle ausgestatteten Reichspräsidenten ist der Bundespräsident als Staatsoberhaupt auf repräsentative Aufgaben beschränkt. Als maßgebliche Organe der politischen Willensbildung erhielten die Parteien verfassungsmäßige Rechte. Eine Fünfprozentklausel verhindert, dass Splittergruppen im Parlament die relative politische Stabilität beeinträchtigen können. Der Bundeskanzler ist vom Bundespräsidenten unabhängig; er kann aus seinem Amt nur im Wege eines konstruktiven Misstrauensvotums entfernt werden. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Verfassungsbeschwerden, Normenkontrollanträge, die Auslegung des Grundgesetzes und die Verfassungswidrigkeit von Parteien.

Ausblick

"Alles Menschliche ist an sich nur provisorisch", wusste Otto von Bismarck, des deutschen Reichs erster Kanzler, dem eine Verfassung nach dem Strickmuster unseres Grundgesetzes gewiss zu weit gegangen wäre.

Für ein Provisorium hat sich das Grundgesetz in seinem nunmehr siebten Lebensjahrzehnt erstaunlich lange behauptet. Doch gerade in diesem Notbehelfscharakter liegt seine Stärke. Drei Generationen von Deutschen haben seine beschwerliche Geburt, seine Feuerproben in heiklen Zeiten – man denke an Notstandsgesetzgebung, Arbeitslosigkeit, Finanzkrise und mancherlei grundlegende gesellschaftliche Umwandlung – und seine Bewährung im Ost-West-Konflikt miterlebt und hatten an seinen Vorzügen teil. Verfassungsfeinden, die unser politisches System von links, rechts und aus dem Ausland aktiv und kämpferisch bedrohen, ist es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen, den Lebensnerv unseres Staates entscheidend zu schwächen. Keine Verfassung tariert individuelle Freiheiten und staatliche Lenkung besser aus als unser Grundgesetz. Rechts- und Sozialstaat garantieren jedem ein menschenwürdiges Leben. Wir sind Zeugen, wie deutsche Soldaten heute im Ausland unsere Verfassungswerte verteidigen.

Die Chancen, dass das Provisorium weiterleben wird, stehen übrigens gut. Das Grundgesetz verliert seine Gültigkeit erst an dem Tag, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die das deutsche Volk in freier Entscheidung beschlossen hat (Art. 146 GG). Eine solche Volksabstimmung aber ist nicht in Sicht.

Zitiervorschlag

n.N., Das Grundgesetz hat Geburtstag: Von der Dauerhaftigkeit eines Provisoriums . In: Legal Tribune Online, 23.05.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/573/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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