Richard von Weizsäcker zum 92ten: Der Monarch unter den Demokraten

Richard von Weizsäcker feiert heute seinen 92ten Geburtstag. Ein stattliches Alter, doch wer die Vita des früheren Bundespräsidenten betrachtet, wird sich eher fragen, wie er die Überfülle seiner Lebenserfahrungen in einer so kurzen Zeitspanne hat unterbringen können. Constantin van Lijnden wirft einen Blick zurück auf die Geschichte des einzigartigen Politikers und Juristen.

Was macht einen guten Bundespräsidenten aus? Seine politische Macht ist bekanntlich gering, seine Wahl hat er dem schwierigen Kompromiss mehrerer Parteien mit unterschiedlichen Interessen zu verdanken. So scheint es oft, als sei der Bundespräsident nicht viel mehr als eine demokratische Schaufensterpuppe, der größte gemeinsame Nenner, auf den man sich gerade so hat einigen können.

Entsprechend gering sind die Erwartungen an den Träger dieses Amtes. Sicher, würdevoll soll er sein, ein wenig weltmännisch vielleicht, vor allen Dingen aber: korrekt, sauber, und unauffällig. Ein oberster Botschafter für die deutsche Sache, der auf ungezählten Staatsempfängen, Tagungen und Symposien Hände schüttelt und Platitüden äußert, ohne irgendjemandem allzu positiv oder negativ im Gedächtnis haften zu bleiben.

Das klingt vielleicht ein wenig langweilig, doch mit Blick auf die letzten beiden Bundespräsidenten mag man sich durchaus wünschen, sie hätten ihren Dienst auf eben diese unscheinbare Weise, frei von Zwischenfällen oder Kontroversen verrichtet. Wer hingegen weiter zurück in die Vergangenheit blickt, der wird feststellen, dass es auch anders geht. Dass ein Bundespräsident Profil haben, dass er Debatten lostreten und politische Veränderungen in die Wege leiten, und dass er trotz all dem von Skandalen verschont bleiben und sogar als beliebtester Träger dieses Amtes in die deutsche Geschichte eingehen kann.

In gewisser Weise war Richard von Weizsäcker der perfekte Kandidat für diese Rolle. Einerseits brachte der in einem Stuttgarter Schloss geborene Adelsspross all die familiären Voraussetzungen mit, die einen Einstieg in die politische Führungskaste durchaus erleichtern. Sein Vater war Diplomat, später Staatssekretär im Auswärtigen Amt, sein Großvater württembergischer Ministerpräsident, die ganze Familie der Inbegriff des elitären Bildungsbürgertums.

Vom Fähnleinführer zum Bundespräsident

Auf der anderen Seite hingegen wies Weizsäckers Lebenslauf zu keinem Zeitpunkt jene Stromlinienförmigkeit auf, die heute wie eine unabdingbare Voraussetzung für die Wahl zum Bundespräsidenten erscheint. Im Gegenteil gab es so manches in der Vita des Freiherren, über das man die Stirn in Falten legen musste.

Allem voran natürlich die Rolle der Familie Weizsäcker während des NS-Regimes. Richards Vater Ernst übernahm neben oben genannten Ämter auch jenes eines SS-Brigadeführers und wurde zu Hitlers erweitertem Führungsstab gezählt. Richard selbst war zunächst Fähnleinführer in der Hitlerjugend, später von 1938 bis 1945 in der Wehrmacht, wo er in den Rang eines Hauptmanns aufstieg und mit dem eisernen Kreuz "geehrt" wurde.

Nach Kriegsende nahm Weizsäcker das durch seine Einziehung unterbrochene Studium der Rechtswissenschaft wieder auf, das er 1950 mit dem ersten, 1953 mit dem zweiten Staatsexamen beendete und dem er 1955 den Doktortitel hinzufügte. Diese Studienwahl mag auch von einer besonderen Motivation getragen worden sein: Von 1947 bis 1949 nämlich hatte Weizsäcker bereits Gelegenheit, das Gelernte anzuwenden – als Assistent bei der Verteidigung seines Vaters, der in Nürnberg als Kriegsverbrecher angeklagt und letztlich zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde.

Doch im Gegensatz zu seinem Vater hielt sich Richard von Weizsäckers eigene NS-Vergangenheit noch im Rahmen dessen, was die Öffentlichkeit zu verzeihen im Stande war. 1954 wurde er Mitglied der CDU, engagierte sich jedoch bis 1966 überwiegend und sehr erfolgreich in Unternehmen der Privatwirtschaft und zudem als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages.

Galionsfigur der Vergangenheitsbewältigung

Nach seinem Ausscheiden aus der Geschäftsführung des Chemie- und Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim im Jahre 1966 trat Weizsäcker in den Bundesvorstand der CDU ein. Es folgte eine illustre politische Karriere, in deren Verlauf er unter anderem das Amt des regierenden Bürgermeisters von Berlin und Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages bekleidete. 1984 schließlich wurde er mit überwältigender Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt und war damit in der Rolle angekommen, die ihm seinen Platz in den Geschichtsbüchern sichern sollte.

Während seiner insgesamt zehnjährigen Präsidentschaft wusste Weizsäcker das meiste aus den begrenzten Möglichkeiten seines Amtes zu machen. Er war ein begnadeter Redner, strahlte zudem einen Charme aus, der aristokratischen Glanz, politischen Pragmatismus und besorgte Menschlichkeit miteinander vereinte. Dank dieser Fähigkeiten wurde der Mann, dessen eigenes familiäres Vermächtnis aus dem zweiten Weltkrieg durchaus vorbelastet war, nicht nur zum Staatsoberhaupt Deutschlands, sondern sogar zur Galionsfigur der Vergangenheitsbewältigung.

Diese Rolle verdankt er insbesondere seiner legendär gewordenen Rede vom 8. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestages von Deutschlands bedingungsloser Kapitulation. Das Herzstück derselben lautet: "Der 8. Mai [1945] war ein Tag der Befreiung: Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. [...] Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte."

Diese Worte mögen heute wie ein Gemeinplatz erscheinen. Ganz anders hingegen im Jahre 1985. Damals setzte Weizsäckers klarer Appell zu Bekenntnis und Erinnerung sich in scharfen Kontrast zur Beschönigungs- und Vedrängungsrhetorik, die insbesondere von den politisch Konservativen – und damit auch Weizsäckers eigener langjähriger Partei, der CDU – betrieben wurde.

Eine prägende Persönlichkeit der deutschen Geschichte

Peter Bender hat den Effekt von Weizsäckers Worten treffend resümiert: "Nicht ein Emigrant, sondern ein Frontoffizier, nicht ein Atheist, sondern ein ehemaliger Kirchentagspräsident, nicht ein Linker, sondern ein ehemaliger CDU-Politiker zerstörte all die Lebenslügen der Bundesrepublik, dass sie nur das Opfer unglücklicher Verhältnisse sei."

Dieses Zitat erhellt zum einen, wieso Weizsäckers Rede eine solche Sprengkraft besaß, dass sie den größten und wichtigsten Diskurs der deutschen Vergangenheitsbewältigung initiiert hat. Zum anderen spricht es Bände über Weizsäcker selbst: Er war jemand, der in dem engmaschigen Netz politischer und weltanschaulicher Ausrichtungen unter keine Überschrift zu fassen war. Er hatte natürlich Vorlieben und Tendenzen, aber er scheute nicht davor zurück, mit den in ihn gesetzten Erwartungen zu brechen, wenn seine eigene Überzeugung in eine andere Richtung wies.

Über diesen Individualismus ging so manche Freundschaft entzwei. Zum Beispiel mit Helmut Kohl, der sich von Weizsäckers harscher Kritik am Parteiensystem auch persönlich berührt sah. Doch zugleich war es dieser Individualismus, der Weizsäcker Profil verlieh, der ihn bis heute aus der langen Liste längst vergessener Bundespräsidenten herausstechen lässt und ihn zu einer prägenden Persönlichkeit der deutschen Geschichte hat werden lassen.

Weizsäcker hat beides geschafft: klar Stellung beziehen und sein Amt in Würde führen. Die vielen Seitenhiebe und kleineren Enthüllungen, von denen natürlich auch er nicht verschont blieb, perlten an ihm ab, ohne je seinen Ruf zu schädigen. Auch heute, 18 Jahre nach seiner Abwahl, ist er noch in zahlreichen Stiftungen und Vereinen aktiv, und keiner wüsste ein schlechtes Wort über ihn zu sagen. War er der perfekte Bundespräsident? Viele würden das bejahen. Jedenfalls hat er die Latte höher gelegt, als irgend einer seiner Nachfolger zu springen im Stande war, und gilt auch im Alter von 92 noch als politische und moralische Instanz. Wir gratulieren!

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, Richard von Weizsäcker zum 92ten: Der Monarch unter den Demokraten . In: Legal Tribune Online, 15.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5997/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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