EGMR-Verfahren Gäfgen gegen Deutschland: "Wichtige Rechtsfragen am falschen Sachverhalt aufgehängt"

von Prof. Dr. Matthias Jahn

01.06.2010

Der Fall Magnus Gäfgen erregte die Gemüter. Die Drohung der Polizeibeamten mit der Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Ermittlung des Fundortes des Opfers führte zu grundsätzlichen Diskussionen über unzulässige Vernehmungsmethoden und deren Folgen. LTO sprach mit Prof. Dr. Matthias Jahn über Folter, vergiftete Früchte und darüber, dass Richter auch nur Menschen sind. 

Die Entscheidung der letzten Instanz im Verfahren gegen Magnus Gäfgen steht bevor. Der ehemalige Jurastudent führte einen Kreuzzug durch alle Instanzen, nachdem die im Fall des entführten Bankierssohnes Jakob von Metzler ermittelnden Polizeibeamten ihm mit der Anwendung unmittelbaren Zwangs gedroht hatten, um ihn dazu zu bringen, den Fundort des Opfers preiszugeben.

Die Kleine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) urteilte schließlich mit sechs zu einer Stimme, dass Gäfgen nicht mehr behaupten könne, Opfer einer Verletzung des Folterverbots zu sein. In dem Verfahren vor den deutschen Gerichten sei er auch nicht durch eine unzulässige Verwertung von Beweismitteln in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden. Gäfgen war damit mit seinen Argumenten in allen Instanzen unterlegen – bisher. Denn nun entscheidet die Große Kammer des EGMR über seine Beschwerde, der Ausgang des Verfahrens erscheint kaum prognostizierbar.

LTO sprach mit Prof. Dr. Matthias Jahn, Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) und Richter am OLG Nürnberg über grundlegende Fragen des Umgangs mit Straftätern in einem Rechtsstaat.

LTO: Herr Professor Jahn, Magnus Gäfgen ist bisher in allen Instanzen verurteilt worden, obgleich ihm unzweifelhaft von den Polizeibeamten während seiner Vernehmungen die Anwendung unmittelbaren Zwangs angedroht wurde. Darf der deutsche Staat Misshandlungen androhen, wenn er sich hiervon Informationen erhofft, die das Leben eines Opfers retten können?

Jahn: Nein, natürlich nicht. Alle Instanzen vom LG Frankfurt bis zum BVerfG haben unmissverständlich klar gestellt, dass Folter und deren Androhung nicht der Vorstellung des Grundgesetzes vom Verhalten eines Polizeibeamten entsprechen. Auch dann nicht, wenn dies der Rettung – oder wie hier vermeintlichen Rettung, denn das Opfer war zum Zeitpunkt der Androhung der Gewalt ja bereits tot – eines Menschen dient.

LTO: Wieso hatte diese unzulässige Vernehmungsmethode keine Auswirkungen auf das Urteil? Immerhin haben die deutschen Gerichte Magnus Gäfgen trotzdem verurteilt und der EGMR hat die Verurteilungen bestätigt.

"Folter ist immer untersagt"

Jahn: Auch der EGMR hat in deutlicher Form klar gestellt, dass Folter selbst in Ausnahmesituationen untersagt ist. Aber die Opfereigenschaft desjenigen, der Objekt einer Verletzung des Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung geworden ist, kann durch ein im Übrigen faires Verfahren entfallen. Davon ist der EGMR im Fall Gäfgen bisher ausgegangen.

LTO: Der EGMR hat aber auch eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Verwertung von durch unzulässige Verwertungsmethoden erlangten Beweismitteln abgelehnt.

Jahn: Bei der Frage, ob das Verfahren gegen den Beschuldigten fair war, müssen alle Umstände des Einzelfalles in einer Gesamtbetrachtung gewürdigt werden. Dies hat die Kleine Kammer getan. Und ist kurz gesagt zu dem Ergebnis gekommen, dass die deutschen Gerichte Gäfgen hart, aber fair behandelt haben.

LTO: Die deutschen Gerichte haben das auf die Folterandrohung hin abgelegte Geständnis von Gäfgen nicht verwertet, da es einem Beweisverwertungsverbot unterliege.

Jahn: Ja. Das ist die Konsequenz des Grundsatzes, dass jeder Verdächtige im Strafverfahren menschenwürdig behandelt werden muss. Ein durch die Androhung von Folter erlangtes Geständnis mag daher zwar faktisch in der Welt sein. Die Richter dürfen es aber nicht verwerten, d.h. zur Grundlage ihrer Verurteilung machen.

Erneutes Geständnis auch bei Beweisverwertungsverbot möglich

LTO: Gäfgen hat aber in der Hauptverhandlung erneut gestanden. Und dieses Geständnis sowie Reifenspuren am Fundort der Leiche und den Obduktionsbericht hat das Landgericht auch verwertet.

Jahn: Das ist richtig. Der Beschuldigte, der Opfer unzulässiger Vernehmungsmethoden geworden ist, aufgrund derer neue belastende Beweise auftauchen, muss "qualifiziert" darüber belehrt werden, dass die bisherigen, unzulässig erlangten Beweise, vor allem also das Geständnis, nicht verwertet werden dürfen. Er hat dann die Möglichkeit, erneut zu gestehen und sich wie etwa im Fall Gäfgen mit diesem Geständnis die Hoffnung zu erhalten, irgendwann wieder in die Freiheit entlassen zu werden.

LTO: Aber Gäfgen ist zu lebenslanger Haft unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld verurteilt worden.

Jahn: Das Landgericht Frankfurt ging davon aus, dass die Schuld von Magnus Gäfgen so schwer wog, dass das Geständnis, das er dann tatsächlich in der Hauptverhandlung wiederholt hat, nicht mehr entscheidend war. Gäfgens Hoffnung wurde also enttäuscht. Das bestehende Beweisverwertungsverbot bezüglich des durch Folter erlangten Geständnisses wurde aber respektiert.

Früchte vom vergifteten Baum

LTO: Gäfgen beruft sich aber weiterhin darauf, dass in der Hauptverhandlung Beweismittel verwertet wurden, die aufgrund des durch Zwang erlangten Geständnisses sichergestellt wurden.

Jahn: Herr Gäfgen ist nun gezwungen, im Verfahren vor dem Menschenrechtsgerichtshof geltend zu machen, dass auch die Verwertung der Erkenntnisse aus dem Leichenfund und die ihm zuzuordnenden Fuß- und Reifenspuren unzulässig sind. Damit beruft er sich auf die sogenannte fruit of the poisonous tree-doctrine, nach der sämtliche Beweismittel, die aufgrund einer einmal fehlerbehafteten Beweiserhebung aufgefunden werden, nicht verwertbar sind. Die einmal unter Anwendung verbotener Vernehmungsmethoden erfolgte oder in sonstiger Art und Weise unzulässige Erhebung eines Beweises "vergiftet" also nach dieser Theorie sämtliche weiteren Beweismittel, die in der Folge erhoben werden.

LTO: Die fruit of the poisonous tree doctrine stammt allerdings aus dem amerikanischen Rechtsraum. Die deutsche Rechtsprechung lehnt diese ab, lässt also die Verwertung von Beweismitteln zu, die nicht unmittelbar aufgrund des Verfahrensverstoßes aufgefunden wurden. Diese Rechtsprechung wird in der Literatur stark kritisiert. Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Jahn: Der BGH begründet die Nichtanwendung der fruit of the poisonous tree doctrine vereinfacht ausgedrückt damit, dass deutsche Polizeibeamte sich rechtmäßig verhielten. Denn anders als zum Beispiel in den Vereinigten Staaten würden deutsche Beamte durch das Dienstrecht diszipliniert. Meines Erachtens trägt diese Begründung heute nicht mehr, weil sie den Realitäten des Ermittlungsverfahrens nicht mehr in jeder Weise gerecht wird. Ich halte eine Fernwirkung von Beweisverwertungsverboten in manchen Konstellationen für zwingend.

Schwere Verstöße gegen Grundrechte erfordern Fernwirkung

LTO: In welchen Konstellationen plädieren Sie für eine solche zwingende Unverwertbarkeit auch weiterer, mittelbar erlangter Beweismittel?

Jahn: Naheliegenderweise natürlich bei Verstößen gegen den Menschenwürdegrundsatz. Aber auch bei Berührung des Kernbereichs anderer wichtiger Freiheitsgrundrechte wie zum des Telekommunikationsgrundrechts oder des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung.

LTO: Das hieße in letzter Konsequenz, dass Beschuldigte möglicherweise aufgrund eines einzigen, wenn auch schweren Fehlers im Ermittlungsverfahren nicht verurteilt werden könnten.

Jahn: Im Grundsatz ist dann die komplette Beweiskette im anhängigen Verfahren kontaminiert, die Früchte der unzulässigen Beweiserhebung dürfen nicht genossen werden. Aber man muss dennoch differenzieren: Werden zum Beispiel bei einer unzulässigen Hausdurchsuchung wegen eines Tötungsdelikts Drogen gefunden, könnte ein neues Verfahren aufgenommen werden. Allerdings nicht wegen des Tötungsdelikts, aufgrund dessen ursprünglich unzulässigerweise ermittelt wurde. Wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz aber könnte grundsätzlich ein neues Verfahren eingeleitet werden.

"Richter sind auch nur Menschen"

LTO: Wie beurteilen Sie die Umsetzung von Beweisverwertungsverboten? Erachten Sie die bloße Belehrung des Angeklagten darüber, dass die einem Beweisverwertungsverbot unterliegenden Beweismittel nicht verwertet würden, als ausreichend, um groben Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien Rechnung zu tragen?

Jahn: Auch dabei muss man unterscheiden. Einerseits gibt es die strafverfahrensrechtliche Seite, die die Strafprozessordnung vorgibt: Der Angeklagte wird über die Unverwertbarkeit des Beweismittels aufgeklärt und kann dann entscheiden, ob er einer Verwertung trotzdem zustimmt, etwa, um einen Strafrabatt zu bekommen. So auch im Fall Gäfgen.

Nicht unwichtig ist aber die menschliche Komponente, über die gerade in Juristenkreisen wenig gesprochen wird. Können sich die Richterinnen und Richter von dem Eindruck, den ein durch ein Beweisverwertungsverbot gesperrtes Beweismittel macht, wieder frei machen? Und damit meine ich durchaus nicht nur die Schöffen, sondern auch die Berufsrichter.

LTO: Also glauben Sie nicht an die von Juristen und gerade von Richtern für sich in Anspruch genommene Fähigkeit, nur dasjenige in die Urteilsfindung einfließen zu lassen, was auch formal verwertbar ist?

Jahn: Dahinter würde ich ein großes Fragezeichen setzen. Ein hoher Strafrichter hat einmal gesagt "Ein goldrichtiges Urteil hebt man nicht auf." Das heißt, ein Obergericht wird immer in der Lage sein, ein Urteil, das es für richtig hält, auch "um ein Bewertungsverbot herum" zu halten. Richter sind auch nur Menschen und können sich von moralischen Aspekten nicht gänzlich frei machen.

"Wichtige Rechtsfragen am falschen Sachverhalt aufgehängt"

LTO: Wie haben Sie die Diskussion um den Fall Gäfgen empfunden?

Jahn: Der Mord am Bankierssohn von Metzler war kein Fall "normaler Kriminalität". Es ist unglücklich, dass daran derart wichtige Rechtsfragen aufgehängt wurden. Dieselben Personen, die sich im Fall Gäfgen ohne großes Zögern für eine Zulässigkeit der Folter zur Rettung des Lebens des Kindes ausgesprochen haben, würden in anders gelagerten und das heißt den allermeisten Fällen die Anwendung von Folter selbstverständlich ablehnen.

LTO: Eigentlich ist jede Ablehnung von Folter schließlich auch eine der Grundlagen eines Rechtsstaates…

Jahn: Auch das ist interessant: Aus der abweichenden Meinung der bulgarischen Richterin zur Entscheidung der Kleinen Kammer des Gerichtshofs ergibt sich für mich durchaus ein anderer Bezug zur Folter. Die Richterin Kalaydjieva trifft in ihrem sachlich gut begründeten Votum auch die richtige Tonart. Sie verarbeitet dabei neben der juristischen auch eine emotionale Komponente. Und aus ihren Ausführungen spricht ein anderer background – der eines Landes, das den Terror einer Diktatur noch viel unmittelbarer kennt als dies hier in Deutschland der Fall ist.

"Vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand"

LTO: Erwarten Sie eine Bahn brechende Entscheidung der Großen Kammer des Gerichtshofs im Fall Gäfgen?

Jahn: Den Inhalt der Entscheidung der Großen Kammer kann ich nicht vorher sagen. Allerdings steht sie zum jetzigen Zeitpunkt, egal, wie sie ausgeht, in Zusammenhang mit dem Urteil des EGMR zur Sicherungsverwahrung. Auch dort hatte das BVerfG die Signale für die nachträgliche Sicherungsverwahrung auf grün gestellt. Der EGMR hat dann relativ überraschend entgegengesetzt entschieden. Nun haben das BVerfG und ein erstes Oberlandesgericht es abgelehnt, einen Sicherungsverwahrten frei lassen.

LTO: Was würde es für Magnus Gäfgen bedeuten, wenn die Große Kammer nun von einer fortdauernden Verletzung des Folterverbots oder des Rechts auf ein faires Verfahren ausginge?

Jahn: Das meine ich mit der angesprochenen Parallele: In diesem Fall müsste das Strafverfahren in Deutschland möglicherweise wieder aufgenommen werden. Auch hier würden sich, wenn die Große Kammer die Entscheidung der Kleinen aufhöbe, ganz grundlegende Fragen zum Umgang mit verurteilten Straftätern stellen. Wie gesagt, eine Prognose der Entscheidung des EGMR ist nicht möglich. Letztlich ist man eben vor Gericht und auf hoher See in Gottes Hand.

Das Interview führte Pia Lorenz.

 

Anm. d. Red: Der Text enthielt zunächst die Information, Gäfgen sei zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Dies ist nicht korrekt. Tatsächlich wurde er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest.

Zitiervorschlag

Matthias Jahn, EGMR-Verfahren Gäfgen gegen Deutschland: "Wichtige Rechtsfragen am falschen Sachverhalt aufgehängt" . In: Legal Tribune Online, 01.06.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/617/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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