Milde Strafen für Wirtschaftskriminelle: "Dem Eindruck einer Zwei-Klassen-Justiz entgegenwirken"

11.02.2012

Bei einer Steuerhinterziehung in Millionenhöhe darf die Strafe in der Regel nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, entschied der BGH letztmalig am Dienstag. Die Rechtsprechung ist nicht neu - und dennoch werden Kriminelle im Anzug in Deutschland milder bestraft als andere Straftäter, meint Dieter Temming im LTO-Interview.

LTO: Herr Dr. Temming, auf der Neujahrstagung der Wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung haben Sie mit Ihrer These für Furore gesorgt, dass Wirtschaftsstraftäter in Deutschland besser wegkämen als andere Straftäter. Können Sie diese Annahme empirisch belegen? 

Temming: In meinem Referat habe ich darzustellen versucht, ob man diese Kritik verallgemeinern und auch durch Fakten untermauern kann. Empirisch belegen lässt sich die Vermutung nicht exakt, da konkrete Zahlen aus den Wirtschaftsstrafverfahren bei den Landgerichten nicht statistisch ausgewertet werden. Mangels belastbarer Daten habe ich daher auch von einer "gefühlten" Annahme eines "soft law" bei so genannten "echten" Wirtschaftsdelikten gesprochen.

Allerdings gibt bereits die Strafverfolgungsstatistik Hinweise auf ein so genanntes "soft law" für Wirtschaftskriminalität, wie die Zahlen bei Steuerhinterziehungsdelikten beispielhaft belegen: Nur etwa 10 Prozent der Verfahren enden mit einer Freiheitsstrafe, die überwiegend noch zur Bewährung ausgesetzt wird. Strafaussprüche von mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe ergehen ganz grob gerechnet bei etwa 1 Prozent der Verurteilungen.

LTO: Sie sind Vorsitzender Richter einer Strafkammer am Landgericht Osnabrück. Können Sie auch an Ihrem Gericht eine vergleichbare Zumessungspraxis bei Wirtschaftsstraftaten beobachten?

"Häufig Bewährungsstrafen für das gehobene Klientel"

Temming: Dass die allgemein in der Literatur geäußerte Annahme einer Besserstellung von Wirtschaftsstraftätern berechtigt ist, habe ich auch auf eigene Beobachtungen gestützt. An der Zumessungspraxis fiel auf, dass häufig Bewährungsstrafen ausgesprochen werden. Bei Wiederholungstätern, die nicht zum "gehobenen" Klientel einer Wirtschaftsstrafkammer zählen, werden dagegen auch härtere Strafen verhängt. Das sind häufig Menschen, die nicht das erste Mal wirtschaftlich gescheitert sind, in der Regel Klein- oder "Schwarz"-Unternehmer.

Eine ähnliche Tendenz gibt es bei Vermögensdelikten wie Betrug und Untreue. Dort stellte ich fest, dass die Herkunft der Täter und der Gesamtzusammenhang der Taten, etwa die Größe des Betriebes, eine wesentliche Rolle bei der Strafzumessung spielen. So werden gewerbsmäßig handelnde Betrüger ungeachtet der Schadenshöhen oft härter bestraft als Täter, die im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruchs eines vorher funktionierenden Unternehmens straffällig werden oder eine besondere berufliche Stellung innehaben.  

LTO: Was ist Ihrer Meinung nach der Grund für diese unterschiedlichen Strafrahmen?  

Temming: Eine Besonderheit bei Steuerhinterziehungsdelikten ist die kombinierte Verhängung von Bewährungs- und Geldstrafen. Viele Richter nutzen diese Möglichkeit nicht, um den Täter zu sanktionieren, sondern um nicht aus dem Bereich einer aussetzungsfähigen Freiheitsstrafe zu rutschen. Mit anderen Worten: Sie wollen eine für Staatsanwaltschaft und Angeklagte erträgliche Strafe verhängen.  

Auch bei der Bestrafung von Vermögensdelikten ist eine kombinierte Gesamtfreiheits- und Geldstrafe nicht unüblich. Auffällig ist außerdem, dass die ausgeurteilten Strafen häufig nicht mit den jeweiligen Schadenshöhen kompatibel sind, und dies unabhängig vom Deliktstyp.  

Vordergründig wirkt die Zumessungspraxis daher willkürlich und unberechenbar. Bei genauer Betrachtung der Fälle offenbart sich aber ein Phänomen, das an vielen Wirtschaftsstrafkammern verbreitet ist. In fast allen Fällen, in denen die ausgesprochenen Strafen nach unten aus dem "üblichen" Rahmen fielen, lag dem Urteil eine Verständigung, ein so genannter Deal, zugrunde.

Ressourcenprobleme, Deals und komplexe Sachverhalte

LTO: Warum kommt es denn auch bei hohen Schadenssummen im Wirtschaftsbereich häufig nur zu Bewährungsstrafen? Sind die Richter mit Wirtschaftskriminellen schlicht überfordert? 

Temming: Diese Einschätzung hat jedenfalls der BGH geäußert, der eine adäquate Bestrafung allein deswegen für schwierig hält, weil für die gebotene Aufklärung derart komplexer Sachverhalte keine ausreichenden justiziellen Ressourcen zur Verfügung stehen.

Tatsächlich sind gerade im Bereich des Steuerstrafrechts die Sachverhalte und die rechtlichen Anforderungen der Revisionsgerichte komplizierter geworden, weshalb Wirtschaftsstrafverfahren immer aufwändiger werden. Außerdem wurden in der Justiz in der Vergangenheit zunehmend Stellen abgebaut und die jetzt gesetzlich zugelassene Verständigung im Strafverfahren schafft für die Tatrichter einen erhöhten Anreiz, sich auf den einfacheren Weg der Urteilsabsprache einzulassen. Diese  "Vergleiche" führen dann zu entsprechend niedrigeren Strafen. 

Dass sich die Richter einem streitigen und hochkomplexen Wirtschaftsstrafverfahren nicht stellen wollen, weil sie es nicht können, ist damit aber nicht gesagt. Eine mangelnde Qualifikation könnte man statistisch nur erhärten, wenn man die Quote der Urteilsaufhebungen des BGH in Wirtschaftsstrafsachen und ihr Verhältnis zu allen übrigen Strafsachen ermitteln würde.

Auch bei Steuerstraftaten: Kein "Bestrafen nach Taxe"

LTO: Halten Sie es tatsächlich für weniger willkürlich, wie der BGH letztmalig erst in dieser Woche  auf den eingetretenen Vermögensnachteil als zentralen Maßstab für Schuld und Bestrafung abzustellen? Sollte also derjenige, der einen Schaden von etwas über 1 Millionen Euro verursacht hat, tatsächlich in der Regel keine Bewährungsstrafe mehr bekommen, während der Hinterzieher von Steuern in Höhe von 900.000 Euro auf freiem Fuß bleibt?

Temming: Derart allgemein gehaltene Leitsätze in BGH- Entscheidungen bergen immer die Gefahr in sich, dass sie dann entsprechend missverstanden werden.  Strafzumessung ist immer ein individueller Vorgang, bei dem alle mildernden und schärfenden Umstände der Tat und der Persönlichkeit des Täters gegeneinander abzuwägen sind. Dieser allgemeinen Grundsatz gilt auch im Wirtschaftsstrafrecht. Ein besonderes Strafzumessungsrecht für bestimmte Straftatbestände gibt es nicht. 

Es treten bei der Strafzumessung aber je nach Deliktsgruppe besondere Probleme auf, die dann dort eine größere praktische Relevanz aufweisen. Ein ganz wesentliches Element in Wirtschaftsstrafsachen liegt deshalb bei der Feststellung des Schuldumfangs. Bei Steuerhinterziehern ist also besonders die Höhe der hinterzogenen Steuern für die Strafe maßgeblich. 

LTO: Finden dann andere Faktoren überhaupt noch Berücksichtigung?

Temming: Dieser Parameter bedeutet nicht, dass eine Gesamtabwägung  nicht stattfinden muss. Eine völlig schematische Strafzumessung, die sich allein an der Schadenshöhe orientiert, wäre verfehlt. Auch bei Wirtschaftsstrafsachen sind die Person des Täters, seine Motive, die von ihm aufgewendete kriminelle Energie, Vorstrafen, sein Bemühen um Wiedergutmachung, ein Geständnis und ein Mitverschulden der Geschädigten zu berücksichtigen. Ein "Bestrafen nach Taxe" ist unzulässig. 

Das alles ist ebenso  Rechtsprechung des BGH.  Auch im aktuellen Fall hat der BGH die verhängte Bewährungsstrafe nicht für abwegig gehalten. Die Karlsruher Richter haben nur beanstandet, dass die Begründung - angesichts des Schuldumfangs und der kriminellen Energie des Angeklagten -  "nicht ausreichend dargetan" wurde. 

"Die Außenwirkung der Urteile im Blick haben"

LTO: Trotz dieser Rechtsprechung scheinen sich viele Wirtschaftsstrafkammern schwer damit zu tun, die Vorgaben aus Karlsruhe umzusetzen. Neigen deutsche Richter dazu, Kriminelle im Anzug zu schonen? Anders formuliert: Gibt es in Deutschland nach Ihrer Erfahrung eine Klassenjustiz?

Temming: Ob die vom BGH aufgestellten Grundsätze in der künftigen gerichtlichen Praxis umgesetzt werden, geben die Zahlen der Strafverfolgungsstatistik nicht her. Auch konnten Teilnehmer der Neujahrstagung, immerhin überwiegend ausgewiesene Wirtschaftsstrafverteidiger, in der anschließenden Diskussion meines Beitrags eine solche Entwicklung nicht berichten. 

Tatsächlich tut sich die gerichtliche Praxis schwer, sich vom Althergebrachten zu lösen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Wirtschaftskriminelle geschont werden. Viele harte Urteile dienen als Gegenbeispiel. 

Der Vorwurf der Klassenjustiz geht also fehl. Allerdings sollten Richter in jedem einzelnen Strafverfahren immer die Außenwirkung ihrer Urteile im Blick haben, um dem Eindruck einer Zwei-Klassen-Justiz in der Öffentlichkeit entgegenzuwirken. Auch das aktuelle Urteil des BGH ist im Lichte dieser Mahnung zu sehen.

Dr. Dieter Temming ist Vorsitzender Richter am Landgericht Osnabrück und Lehrbeauftragter am Institut für Wirtschaftsstrafrecht der Universität Osnabrück.

Das Interview führte Andreas Schmitt.

Zitiervorschlag

Milde Strafen für Wirtschaftskriminelle: "Dem Eindruck einer Zwei-Klassen-Justiz entgegenwirken" . In: Legal Tribune Online, 11.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5560/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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