Verjährung bei Missbrauchsdelikten: Zwischen Sühne und Rechtsfrieden

Dr. Jan Bockemühl

10.12.2010

In seinem Schlussbericht wird sich der "Runde Tisch Heimerziehung" noch einmal mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Gewalttaten an ehemaligen Heimkindern verjährt sind. Dabei stehen Sinn und Zweck einer zeitlichen Beschränkung von Strafverfolgung und -vollstreckung im Mittelpunkt des Interesses. Was die Experten beachten müssen, erläutert Dr. Jan Bockemühl.

Bereits im Januar 2010 hatte das Gremium einen Zwischenbericht vorgelegt, in dem es sich auch mit der Frage der Verjährung eventueller straf- und zivilrechtlicher Ansprüche befasst. Demnach ist "in den meisten denkbaren Fällen von einer Verjährung auszugehen" und damit eine Aufbereitung durch das Strafrecht ausgeschlossen. Hierbei geht der "Runde Tisch" pauschal von Verjährungszeiten zwischen fünf Jahren und zehn Jahren aus. Dieses greift jedoch ersichtlich zu kurz.

Die Legitimation der Strafverfolgung unterliegt mit - Ausnahme von Mord und Völkermord - grundsätzlich der Verjährung. Dabei unterscheidet man zwischen der Verfolgungsverjährung und der Vollstreckungsverjährung. Im Fall der ehemaligen Heimkinder ist die Verfolgungsverjährung von Interesse. Sowohl die Strafverfolgungs-, als auch die Strafvollstreckungsverjährung sollen dem Rechtsfrieden und damit der Rechtssicherheit dienen. Nach Eintritt der Verjährung liegt ein so genanntes Prozesshindernis vor: Die "Tat" bleibt grundsätzlich weiterhin eine Straftat, ist aber nicht mehr verfolgbar.

Die Verjährungsfristen sind für die einzelnen Straftatbestände in § 78 Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB) gestaffelt geregt, wobei die Verjährungsfristen von einer minimalen Verjährungszeit von drei bis zu 30 Jahren reichen. Die Länge der jeweiligen Verjährungsfrist für den zu beurteilenden Straftatbestand knüpft daran an, mit welchem Höchstmaß die Tat mit Strafe bedroht ist. Der Beginn der Verjährungsfrist ist in § 78a StGB geregelt. Demnach beginnt die Verjährungsfrist grundsätzlich, "sobald die Tat beendet ist".

Ausnahmeregelung wegen familiärer Abhängigkeit

Bei Tatvorwürfen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, wie sie hier in Rede stehen, gibt es von diesem Grundsatz eine gravierende Ausnahme: Laut § 78b Absatz 1 Nr. 1 StGB beginnt die Verjährungsfrist in diesen Fällen nicht mit der Beendigung der jeweiligen Tat, sondern ruht "bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers".

Der Beginn der Verjährungsfrist wird also bis zur Volljährigkeit des (mutmaßlichen) Opfers hinausgeschoben. Die Vorschrift wurde mit Geltung ab dem 30. Juni 1994 in das Strafgesetzbuch eingeführt. Waren zunächst lediglich Delikte aus dem Bereich eines Verstoßes gegen die sexuelle Selbstbestimmung betroffen, wurde die Vorschrift letztmalig durch das so genannte Opferrechtsreformgesetz vom 29. Juli 2009 mit Geltung ab 1. Oktober 2009 auch für bestimmte Körperverletzungshandlungen erweitert.

Sinn und Zweck der Regelung ist darin zu sehen, dass sich minderjährige, mutmaßliche Opfer in einem derart familiären Abhängigkeitsverhältnis befinden, die sie gegebenenfalls von einer Strafanzeige abhält. Die Vorschrift ist zu Recht kritisiert worden, da sie vor allem auf Fälle von sexuellem Missbrauch rekurriert und nicht auch andere Fälle erfasst, bei denen von einem vergleichbaren Abhängigkeitsverhältnis auszugehen ist.

Starre Handhabung der "Bedenkzeit" problematisch

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Regelung für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt. In der Konsequenz führt dieses allerdings dazu, dass Tatvorwürfe gegen die sexuelle Selbstbestimmung, wie sie hier in Rede stehen, gegebenenfalls erst nach maximal 38 Jahren verjähren.

Dieses ist die zwingende Konsequenz daraus, dass bei einem Höchstmaß an Verjährungfrist von 20 Jahren und einem Ruhen der Verjährung bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Opfers gegebenenfalls ein Zeitraum von 18 Jahren den Beginn der Verjährungsfrist hemmt. Wieso einem (mutmaßlichen) Opfer nach dem vom Gesetzgeber angenommenen Wegfall eines Abhängigkeitsverhältnisses noch bis zu 20 Jahre "Bedenkzeit" zustehen soll, lässt die gesetzliche Regelung offen.

Nimmt man ins Kalkül, dass die mit der Vollstreckungsverjährung einhergehende Konsequenz eines Prozesshindernisses der Rechtssicherheit und damit auch der Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips dient, so ist nicht ersichtlich, wieso der Beginn der Verjährungsfrist grundsätzlich starr an das Erreichen der Volljährigkeit geknüpft wird. Immerhin sind Fälle denkbar, in denen per se keinerlei Abhängigkeitsverhältnis besteht oder aber in der Folge – noch deutlich vor Erreichen des Volljährigkeitsalters – wegfällt. Dann aber erscheint ein "Hinauszögern der Rechtssicherheit" unerträglich.

Ungeachtet dieser Kritik greifen die bisherigen Ausführungen des "Runden Tischs Heimerziehung" angesichts der bestehenden Rechtslage zu kurz, da sie von tatsächlich falschen Verjährungszeiten ausgehen. Ob das Gremium hier noch eine Korrektur vornehmen wird, bleibt abzuwarten.

Dr. Jan Bockemühl ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Regensburg.

Zitiervorschlag

Dr. Jan Bockemühl, Verjährung bei Missbrauchsdelikten: Zwischen Sühne und Rechtsfrieden . In: Legal Tribune Online, 10.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2125/ (abgerufen am: 15.04.2024 )

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